Denn ihr alle seid eins 

Ein Text von Mara Klein über geschlechtliche Identität zwischen Einheit und Vielfalt. Erschienen im in:spirit Magazin zum Titelthema EINS.

Nimm dir einen Stift und ein Stück Papier und mindestens fünf Minuten Zeit. Lass dich auf drei Fragen ein: Was ist dein Geschlecht? Woher weißt du, was dein Geschlecht ist? Was bedeutet dein Geschlecht für dich – im Alltag, in der Gesellschaft, in der Kirche? Es gibt keine falschen Antworten. 

Schon immer philosophisch (oder wie Erwachsene sagen: besserwisserisch) veranlagt habe ich als Kind die Erkenntnis gehabt: Wenn alle einzeln was ganz Besonderes sind, dann ist es nicht besonders, besonders zu sein, sondern wir sind alle gleich deswegen. Warum hat mich das damals beschäftigt? Ich weiß es nicht mehr. War es genau in dem Alter, in dem ich wie andere Kinder begriffen habe, dass ich ein unabhängiges Selbst bin? Oder ist das frühe Nachdenken über Identität, Vielfalt und Gleichheit vielleicht ein Indikator gewesen, dass ich angefangen habe zu merken, dass ich nicht ganz in die Formen passe, die mir zugeschrieben wurden? Ich habe erst mit Mitte Zwanzig begriffen, dass ich trans* bin. Und seitdem blicke ich auf meine Biografie zurück und denke: Wieso habe ich es nicht vorher schon gesehen? Es war so offensichtlich. 

Geschlecht gehört zu den Dingen, die wir in unserer Gesellschaft als am offensichtlichsten erachten. Jeder Name, jeder Körper, jede Stimme, fast jedes Kleidungsstück provoziert bei uns in unter einer Sekunde eine Geschlechtszuordnung. Und wenn es mal nicht passt, wenn etwa ein Körper, den wir männlich lesen ein weiblich verstandenes Kleid trägt, dann führt das zu Verwunderung, zu Unsicherheit, zu Irritation, zu Aggression. Ich bin nichtbinär, aber ich werde immer binär gelesen, in der Regel als Frau. Und Menschen sind oft irritiert, wenn ich ihre Zuordnung korrigiere. „Sie sehen für mich aber aus wie…“ oder „Mara ist aber eindeutig ein weiblicher Name 1.“ 

Warum wollen wir unbedingt sicher wissen, welches Geschlecht ein Mensch hat? Warum muss es Mann oder Frau sein? Wieder ein Rückblick, diesmal in meine Jugend: Es ist Gemeindefasching und zwei andere Jugendliche fragen, ob ich spontan einen Sketch mitspiele. Ich möchte gern den Pfarrer spielen. Die anderen stört das nicht. Aber das entsetzte und missbilligende Gesicht meines Religionslehrers, als er mich und nicht einen der Jungs im schwarzen Priestergewand sieht, habe ich heute noch vor Augen.  

Nicht nur in der Katholischen Kirche ist Geschlecht, oder genaugenommen Männlichkeit2 , mit Macht und Privilegien verbunden. Aber hier lässt es sich sehr deutlich aufschlüsseln. Wenn du als Mann in der Kirche zum Priesteramt berufen bist, setzt du dich mit deiner Berufung auseinander; du überlegst, ob du ins Priesterseminar gehst, oder einen anderen Weg einschlägst. Wenn du als nicht-Mann (oder trans Mann) die gleiche Berufung spürst, setzt du dich mit deinem Geschlecht auseinander; es ist der Grund, warum Priesterseminar für dich gar nicht als Weg in Frage kommt. 

Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid EINS in Christus Jesus. Gal 3,27f. Wie wohltuend ist dieser Vers im Kontrast zum amtskirchlichen Beharren auf die Männlichkeit Christi als Begründung für das männliche Priesteramt. Wie hoffnungsvoll für alle, die weder männlich noch weiblich sind – oder beides oder mehr. In Christus sind wir eins und doch viele. Besonders und doch gleich.

Es geht mir nicht darum, dass Geschlecht und geschlechtliche Identität egal sein sollen. Nicht um die Abschaffung von Geschlecht oder um Beliebigkeit und Willkür bei der „Geschlechtswahl“. Geschlecht ist keine Wahl. Menschen, die nie falsch zugeordnet wurden, verstehen das oft nicht. Sie sagen: „Aber warum willst du keine Frau sein?“ Ganz ehrlich: Oft wollte und will ich eine Frau sein. Ich denke: Ich könnte doch so tun, als wäre ich eine Frau. Keine*r würde es merken. Es wäre so viel leichter – obwohl Frauenfeindlichkeit ein großer Teil unserer Kultur ist. Aber ich bin es nicht. Es würde mir wehtun. Dass ich mich nicht verstecke, sondern offen lebe und mich mit meiner geschlechtlichen Identität auseinandersetze, obwohl es in unserer Kirche und Gesellschaft alles andere als leicht oder gar vorgesehen ist – das ist meine Wahl. Insofern, als dass Ich-Selbst-Sein eine Wahl sein kann. 

Warum gibt es auf die Fragen am Anfang keine falschen Antworten? Du hast die Deutungshoheit über dein eigenes Geschlecht und deine geschlechtsspezifischen Erfahrungen. Kein anderer Mensch kann diese Fragen mit der gleichen Autorität beantworten wie du. Und deswegen kannst du diese Fragen auch nicht für andere beantworten. Aber: Du kannst darüber ins Gespräch kommen. Such dir andere Menschen und stellt euch zusammen diese Fragen. Findet heraus, wo ihr ähnliche Erfahrung macht und wo ihr euch unterscheidet. 

In meiner Erfahrung fängt geschlechtliche Vielfalt nicht bei trans*, inter* und nichtbinär an. Sondern schon zwischen Menschen des gleichen Geschlechts. Je mehr wir uns von unseren Erfahrungen berichten, umso mehr wir verstehen, wie vielfältig wir sind, umso mehr wir uns in unserer eigenen Identität gesehen fühlen, umso weniger können starre Rollenzuweisungen bestand haben, umso weniger neigen wir dazu, vorschnell zu ordnen und zu urteilen. 

[1] Mit dem Namen bin ich nicht geboren – er wurde erst nach der Geburt durch meine Eltern willkürlich ausgesucht. Zufällig mag ich ihn. Natürlich hatten meine Eltern dabei ein Geschlecht im Kopf, was sich als unzutreffend herausstellte. Aber der Name hat weder selbst ein Geschlecht, noch ändert er mein Geschlecht auf magische Weise.

[2] Oder noch genauer genommen: cis-hetero Männlichkeit, d.h. nur Männer, die nicht trans* sind und die ausschließlich Frauen sexuell attraktiv finden.

Info: Mara Klein (*1996) studiert in Halle (Saale) katholische Theologie und Englisch auf Lehramt. Ehrenamtlich ist er*sie U30 Mitglied der Vollversammlung des Synodalen Wegs und des Synodalforums "Leben in gelingenden Beziehungen - Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft". Im Dezember 2021 hat Klein zusammen mit Mirjam Gräve und Hendrik Johannemann das Buch "Katholisch und Queer" herausgegeben.

Der Text ist im in:spirit Magazin zum Titelthema EINS erschienen. Mehr zum Magazin gibt's hier.

Mara Klein (*1996) studiert in Halle (Saale) katholische Theologie und Englisch auf Lehramt.