Du und ich und unsere Grenzen

Der Alltag mit Kleinkind ist bunt und laut, turbulent und herausfordernd – und zeigt allen Beteiligten ihre Grenzen auf. Zeilen an das tobende Kleinkind. 

Es ist ein sonniger Tag, wir sind im Wald unterwegs. Du hast ein Gänseblümchen entdeckt. Pflückst es. Studierst seine Blätter. Legst es zurück. Schaust nochmal hin, hebst es an. Wunderst Dich, dass es lose ist und sich nicht wieder zupfen lässt. Drückst es fest. „Komm, wir gehen weiter!“, sage ich – und ziehe voran. „Nein!“, rufst Du – und brichst in Tränen aus. Nun sitzen wir im Wald auf dem Boden. Genau genommen liegst Du da, bäuchlings, weinend, aufgelöst – ich darf nichts machen, nur hier sitzen. Neben uns das Gänseblümchen. 

Mit Dir lerne ich die emotionalen Höhenflüge und Abgründe dessen kennen, was ich nur noch routiniert abspule oder maximal schulterzuckend zur Kenntnis nehme. Du bist erschüttert, empört, wütend, verzaubert, gebannt. Und immer wieder bestürmt von Eindrücken, die Deine Gefühle aufwirbeln. Mir bleibt oft nichts, als Deine Gefühlsstürme zu begleiten, dabeizubleiben, mit auszuhalten. Und so lerne ich neu, Empörung zu spüren, Wut, Trauer, Angst – aber auch Freude, Neugier und Mut. Deine Emotionen markieren die Grenze dessen, wo man noch etwas tun kann und weisen gleichzeitig über diese Grenze hinaus: Wenn Du spürst, spürst Du ganz, tief, ungefiltert, ungehemmt. Das alles kann ich nur ahnen. 

Noch mehr Saft, noch mehr Wurst, noch mehr draußen bleiben, noch mehr von allem! Unersättlicher Lebensdurst, grenzenloses Streben. Und gleichzeitig: Das Gänseblümchen wächst nicht weiter. Manche Grenzen bleiben unerschlossen – und es ist frustrierend, klein zu sein. Immer wieder. Viel lieber willst Du groß sein und streckst Deine Hände hoch: Sooo groß! Dann sehe auch ich, wie klein wir alle sind – und ahne: große Weite. Spüre Freude, die unfassbar ist, lache Tränen und tanze im Kreis – und bin doch auch oft genug wütend, ratlos und müde. Meine Grenzen lerne ich neu wahrzunehmen, beizeiten zu hinterfragen, beizeiten zu behaupten – und über sie hinaus zu fühlen. 

Du bist du und ich bin ich. Das kannst Du noch nicht sagen oder begrifflich fassen. Doch immer wieder fühlst Du die Grenze, stößt Dich daran, dann schüttelt es Dich. Du weinst und tobst, bist wütend auf mich – oder auf Dich, oder das Leben, auf alles. Und wenn Du mir Dein erstes „Alleine!“ entgegenschleuderst, ist sie plötzlich da, diese Grenze zwischen Dir und mir. Die Grenze, die beflügelt und Kräfte zehrt, die befreit und ernüchtert, die uns Selbstständigkeit und Solidarität lehrt, an der wir wirklich zu leben beginnen und am Ende sterben müssen: alleine. Denn manches muss jede*r alleine. Und Du musst alleine die Jacke zu machen, auch wenn ich eigentlich dafür überhaupt keine Zeit habe. Nein, alleine! Diese Grenze kostet Zeit und Nerven. Doch sie ist auch die Grundlage unserer Beziehung: Du und ich. Grundlage allen Miteinanders. Grundlage Deines Lebens, das Du lebst. 

Wir beide wachsen so an unseren Grenzen – und üben dabei Gesellschaft von morgen. Ich will Dich einbeziehen, formuliere mein Anliegen als Frage – und wundere mich, wenn Du Nein sagst. Manchmal lache ich dann über mich selbst. Als Grenzen setzende Person springe ich dabei durch die Rollen: bin Aufpasserin, Emotionsdeponie, Vorbild, Erklärbär, Feuerwehr. Alles gleichzeitig und vieles dazwischen. Und manchmal auch einfach die Neinsagerin. Wie oft frage ich mich: Wie will ich sein – mit Dir, für Dich? Und stehe dabei zwischen den Stühlen. 

Es ist ein sonniger Tag, wir zwei auf dem Waldweg. Du bäuchlings, ich sitzend daneben. Gehen Sie weiter, will ich sagen, hier gibt es nichts zu sehen – nur das Wachsen unserer Gesellschaft von morgen. Die meisten lächeln, einige schütteln den Kopf. Der letzte hat einen Hund dabei – Du hältst inne, hebst den Kopf. Situation gerettet. 

In einem Pinnchen auf unserer Fensterbank blühen jetzt Gänseblümchen. 

Mirjam Gödeke

 

Der Text erschien im in:spirit-Magazin zum Thema Grenzen. Mehr zum Magazin.