in:spirit-Magazin: Gehen oder bleiben?

Ulrike Köhler, 65, wuchs in der DDR auf und erlebte die Wende hautnah mit. Im Interview mit dem in:spirit-Magazin erzählt die Mitgründerin des „neuen“ Klosters Volkenroda, warum der Geburtstag ihres Onkels ihr die Augen öffnete und wie sie zu einem freien Glauben fand.

Liebe Ulrike, du hast einen großen Teil deines Lebens in der DDR gelebt. Erzähl uns doch etwas über deine Kindheit im geteilten Deutschland. 
Ich muss sagen, dass wir eine sehr behütete Kindheit hatten. Der Staat im Sozialismus war wohl strukturiert, die Kriminalität sehr gering und das Sicherheitsgefühl daher sehr hoch. Als Kind habe ich nicht bemerkt, dass es zwei grundlegend verschiedene Systeme in unserem Land gab. Das Einzige, an was ich mich wirklich noch gut erinnere, war ein Satz, den meine Eltern immer gesagt haben: ‚Was gesprochen wird im Elternhaus, spricht ein gutes Kind nicht aus‘.

Das hast du als Kind nicht wirklich verstanden. 
Man hat es einfach als normal angesehen. Offiziell durften wir kein West-Fernsehen schauen, haben es aber in unserem Elternhaus trotzdem getan. Und die Lehrer haben immer wieder versucht herauszufinden, ob die Familien sich an die Regeln halten. Die DDR war wie eine Diktatur, die dir vorgeschrieben hat, wie du leben sollst. Freiheit und auch die Glaubensfreiheit gab es einfach nicht. 

Wann hast du das erste Mal richtig gespürt, dass das System der DDR euch so einschränkt? 
Je älter ich wurde, desto mehr habe ich gemerkt, dass der Staat uns eigentlich nur anlügt. Es hat alles irgendwie nicht zusammengepasst und man wurde immer öfter damit konfrontiert, sich rechtfertigen zu müssen Wir hatten Gott sei Dank nie wirklich mit der Stasi zu tun, aber wir haben von anderen mitbekommen, dass der Staat sehr restriktiv gehandelt hat. 

Wie hat sich das auf deine weitere Ausbildung ausgewirkt? 
Als wir auf die Oberschule gehen wollten, musste meine Mutter sich für uns einsetzen, damit wir überhaupt zugelassen wurden. Ich konnte meinen Abschluss machen und 1975 mein Studium der Landwirtschaft in Leipzig anfangen. Als ich damit fertig war, war ganz schnell klar: Du musst dorthin, wo der Staat dich braucht. Das konnte ich mir damals nicht aussuchen. Es war tatsächlich ein großer Zufall – heute würde ich sagen Gottes Fügung – dass ich genau dorthin gekommen bin, wo mein zukünftiger Mann auch studiert hat.

Das bedeutet, du bist doch ganz glücklich gewesen, wo man dich hingeschickt hatte? 
Privat ist es mir damit gut gegangen. Ich habe geheiratet, Kinder bekommen und sowohl mein Mann als auch ich waren in guten Posten in der Landwirtschaft angestellt. Aber spätestens da habe ich gemerkt, wie kaputt das System eigentlich ist. Irgendwann wurde nur noch Naturalhandel betrieben, weil es einfach nichts mehr gab. Dabei ging es uns in der Landwirtschaft noch gut, weil die DDR versucht hat, immer genügend Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Sozusagen die Grundbedürfnisse der Menschen zu stillen, um sie zu besänftigen. Aber man hat gemerkt, wie es brodelt. 

Wie hat sich dieses „Brodeln“ für dich dargestellt? 
Am deutlichsten wurde mir das, als ich zum ersten Mal im Westen gewesen bin. Ich durfte 1987 zum Geburtstag eines Onkels fahren. Das war für mich ein unvergessliches Erlebnis. Schon der Moment, als wir über die Grenze gefahren sind und es niemanden mehr auf den Plätzen gehalten hat, war einfach unbeschreiblich. Alle sind raus und ans Fenster gestürmt und mir kamen sofort die Tränen. Es war einfach nichts so, wie ich es kannte. Und auf der Geburtstagsfeier sagte mein Onkel zu mir, dass die Grenze nicht mehr lange bestehen werde. Das hätte ich mir in diesem Moment nie vorstellen können, aber als ich wieder zuhause war, da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, wie anders die Systeme sind. Und wie kaputt eigentlich alles war. Man hatte vorher nie einen Vergleich, bis ich es selbst erlebt habe. Das war ein sehr einschneidendes Erlebnis für mich und auch andere haben das natürlich erlebt.

Und als du zurück zu deiner Familie kamst, da war die Wende ja nicht mehr weit. 
Ich nenne die Wende lieber eine ‚friedliche Revolution‘. Die Menschen sind mit Kerzen auf die Straße gegangen, vorneweg die wirklichen Widerstandskämpfer und dann immer und immer mehr Menschen. Ich denke, es war eine Mischung aus der kollabierenden Mangelwirtschaft und dem sehnlichen Wunsch nach Freiheit, der die Menschen umgetrieben hat. Bis heute finde ich es etwas unfassbar Tolles, dass es möglich war, ein System mit Kerzen und Gebet zu ändern. Das ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal und ich bin so dankbar, dass ich das miterleben durfte.

Wie genau hast du den Moment der Öffnung der Grenze erlebt? 
Genau zu der Zeit waren wir in Ungarn und haben erst davon erfahren, als wir wieder deutschen Radiosender empfangen haben. Da waren wir erstmal total überfordert und wussten nicht, was wir tun sollten. Gehen oder Bleiben? Darüber haben wir viel nachgedacht. Die Entscheidung fiel am Ende, weil mein Schwiegervater ein schwerer Pflegefall war und nicht gehen wollte. Daher sind wir mit ihm geblieben. 

Und dann? Hat sich alles verändert? 
Ich bin nach der Wende arbeitslos geworden. Das war schon ein riesiger Einschnitt und eine große Unsicherheit. Wir kannten kein Sozialnetz, wussten nicht, wie wir unsere Kredite weiter bezahlen und die Kinder ernähren sollten. Das gesamte Staatssystem, die Polizei, alles war im Umbruch und es ist nicht leicht gewesen, sich darin zu orientieren. Ich denke trotzdem, dass wir uns relativ schnell anpassen konnten, weil wir noch so jung waren. Viele Menschen, die zur Zeit der Wende schon älter waren, hatten da mehr Probleme. Wir haben alles miterlebt, Dynamik und Euphorie, aber eben auch die Schattenseiten, die mitkamen. 

Wie bist du mit den Schattenseiten der Wende umgegangen? 
In dieser Zeit habe ich eine tiefe, innere Not gespürt. Und wie meine fromme Oma sagen würde, hat mich diese Not wirklich das Beten gelehrt. So habe ich zu Gott gefunden und begonnen, mich für den Wiederaufbau des ehemaligen Zisterzienserklosters Volkenroda einzusetzen. Wir mussten viel organisieren, recherchieren, Anträge schreiben und gleichzeitig aktiv mit anpacken. Jeder Tag war unglaublich spannend und ich habe gelernt, dass etwas nicht aufhört, solange du weitergehst. Diese Zeit war für mich sehr bereichernd und verbunden mit einer tiefen Gotteserfahrung. 

Was würdest du sagen, hast du daraus mitgenommen? 
Für mich und wahrscheinlich für unsere gesamte Generation war es ein unglaublicher Reichtum sowohl die DDR-Zeit als auch die Wende miterlebt zu haben und jetzt in der Marktwirtschaft zu leben. Man kann es gut vergleichen und Vor- und Nachteile von allem sehen. Und ich glaube, dass diese Erfahrungen den großen Schatz unseres Lebens darstellen. Dinge völlig neu sehen zu lernen und sich innerlich so vollkommen zu öffnen. Und eben beide Seiten zu kennen. Ich schätze, dass alle DDR-Bürgerinnen und -Bürger schon mal im Westen waren, aber ich glaube nicht, dass alle Westdeutschen schon einmal im Osten waren. Diese Lebenserfahrung ist ein ganz wichtiger Schatz der Seelsorgearbeit, die ich heute in Volkenroda leite. Ich habe mein Leben gut aufgearbeitet und verarbeitet und das ist ein großer Schatz, für den ich sehr dankbar sein kann.

Info: Kloster Volkenroda (1131), ehemaliges Zisterzienserkloster: Das baufällige Kloster wurde nach der Wende, auf Initiative zweier Familien sowie in Zusammenarbeit mit der ökumenischen Jesus-Bruderschaft, mühevoll wiederaufgebaut. Heute ist es ein Ort der Begegnung für viele Pilger*innen geworden. www.kloster-volkenroda.de

Dieses Interview ist in der vierten Ausgabe des in:spirit-Magazins zum Thema "Grenzen" erschienen. 
 

Unsere Interviewpartnerin: Ulrike Köhler, Mitgründerin des neues Klosters Volkenroda
Das alte Kloster
und nach der Umgestaltung