MaZ: Bolivien – „Ich lebe meinen Traum“

Sarah zieht nach den ersten drei Monaten in Cochabamba (Bolivien) ein durchweg positives Fazit und erzählt in ihrem Rundbrief von ihrem Alltag.

Die ersten drei Monate für mich hier in Bolivien sind vorbei und ich habe mich gut eingelebt. Ich habe das Gefühl, angekommen zu sein und wohl fühle ich mich hier schon eine ganze Weile lang. Ich genieße mein Leben hier, ich bin glücklich und ich sammle Erfahrungen, die mein Leben verändern. Ich weiß, es war die richtige Entscheidung für mich, für ein Jahr als MaZ nach Bolivien zu gehen. Ein langer Traum ist für mich in Erfüllung gegangen und meine Erwartungen wurden mehr als übertroffen.

Hier in Cochabamba arbeite ich in der Fundación „Estrellas en la Calle“. Fénix ist ein sehr umfangreiches Projekt. Wir arbeiten mit Kindern und Jugendlichen aus schwachen Verhältnissen im Süden der Stadt. Wir bieten den Kindern einen Ort, an dem sie sie selbst sein können, aber auch einen Ort mit festen Grenzen, mit Regeln, mit Mithelfen und mit Struktur. Die Kinder und Jugendlichen unterstützen wir bei Hausaufgaben, die ihnen schwerfallen, und beim Lernen für die nächste Klausur. Gerade bei den Kleineren ist es auch häufiger so, dass sie ihre Hausaufgaben zuhause nicht erledigen können, da sie sehr viele kreative künstlerische Aufgaben aufbekommen, für die es zuhause einfach an Material fehlt. Aber das ist bei Weitem noch nicht unsere ganze Arbeit. Zusätzlich gibt es Sport- und Kunstangebote, Sozialtraining, Therapierstunden und, bei Bedarf, jederzeit Einzelgespräche. Für das Sozialtraining und die Therapiestunden kommen Spezialist*innen von auswärts, um dem Ganzen nochmal einen vertrauteren und anderen Rahmen zu geben. Bei uns erhalten die Kinder und Jugendlichen an den drei Tagen, die sie in einer Woche kommen, auch immer ein warmes Mittagessen. Außerdem haben die Kinder die Möglichkeit, sich im Projekt zu duschen und ihre Schuluniform zu waschen. Es gibt einen festen Tagesablauf, währenddessen die Kinder bestimmte Aufgaben selbstständig erledigen sollen. Sie erlernen so die Wichtigkeit von Zeitmanagement und das Erstellen von Zeitplänen, wann es am besten ist, eine Aufgabe zu erledigen.

Zusätzlich gibt es noch das Projekt Wayra, das in Fénix zwei Mal unter der Woche und samstags stattfindet. Musiklehrer*innen kommen in das Projekt und ermöglichen den Kindern und Jugendlichen das Erlernen von Cello oder Geige, auch Theorieunterricht gehört zum Projekt Wayra dazu. Es ist schön, den Kindern und Jugendlichen zuzusehen und zuzuhören, wie sie ihre Emotionen einmal anders ausdrücken können. Zudem hat Wayra schon zwei Konzerte organisiert, bei denen die Kinder und Jugendlichen im Rampenlicht standen, viel Selbstvertrauen und Anerkennung gewonnen haben, stolz auf sich sein konnten und sich wichtig gefühlt haben.

Die Schicksale der Kinder und Jugendlichen sind alle einzigartig. Aber beim Versuch, sie zusammenzufassen, kann man sagen, dass alle aus großen Familien mit finanziellen Engpässen kommen. Die Eltern arbeiten oft den ganzen Tag, sodass die Kinder, wenn sie von der Schule oder aus dem Projekt nach Hause kommen, oftmals noch eine Weile allein sind. Einige der Kinder arbeiten auch noch zusätzlich zu der Schule und Fénix, da die Familien auf diese finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Beispielsweise verkaufen sie Gegenstände oder Essen auf der Straße, putzen Autos oder Schuhe oder unterstützen Bauarbeiten. Allgemein ist der Süden der Stadt der ärmere Teil. So gibt es dort zum Beispiel kein fließendes Wasser, die Familien und auch das Projekt haben sogenannte „Tank-Burgs“, das sind Wasserbehälter, die in regelmäßigen Abständen aufgefüllt werden und das Grundstück mit Wasser versorgen. Diese Behälter befinden sich meist auf dem Dach, sodass die angeschlossenen Leitungen das Wasser in Küche und Bad befördern können. Doch wenn das Wasser einmal leer ist, muss man erst wieder darauf warten, dass das Wasser aufgefüllt wird.

Die Kinder und Jugendlichen sind in drei Altersgruppen eingeteilt, die ganz Kleinen sind ca. fünf bis sieben, die Kinder acht bis zwölf und die Jugendlichen 13 bis 18 Jahre alt. Allgemein ist es hier so, dass die Kinder nur vormittags oder nachmittags zur Schule gehen. Die Kinder aus dem Projekt verbringen je die andere Zeitspanne bei uns.

Die meiste Zeit verbringe ich mit den Kindern zwischen acht und zwölf Jahren, aber auch die Jugendlichen kommen vor allem mit ihren Fragen zu Hausaufgaben in Fremdsprachen und Naturwissenschaften oft zu mir. Den Kindern helfe ich bei Hausaufgaben, mache mit ihnen kreative Aktivitäten, bei denen wir oft etwas basteln. Auch Gesellschaftsspiele oder Bewegungsspiele wie Fangen kommen nicht zu kurz. Mit der Vormittagsgruppe esse ich gemeinsam mein Mittagessen und die Nachmittagsgruppe beaufsichtige ich beim Essen.

Bevor die Kinder das Projekt verlassen, muss jedes Kind eine Aufgabe übernehmen. Diese Aufgaben sind zum Beispiel das Hochstellen der Stühle, das Fegen und Wischen des Raumes und der Toiletten. Per Zufallsprinzip teile ich diese Aufgaben ein und schaue, dass auch jedes Kind die eigene Aufgabe gewissenhaft ausführt. Die Kinder wissen, dass diese Aufgaben zur angenehmen Atmosphäre im Projekt beitragen. Außerdem sollen sie so lernen, Aufgaben zu übernehmen, dafür verantwortlich zu sein und dass gemeinsam alles schneller geht. Den Kindern gefällt es sehr im Projekt zu sein, sodass man sie förmlich dazu auffordern muss, nach der Zeit nach Hause zu gehen, denn von allein bleiben sie noch gerne im Innenhof und spielen.

Auf meinen Vorschlag hin haben wir für diese Gruppe ein neues System, das ich aus meiner Schulzeit kenne, eingeführt. Ziel ist es, das Verhalten der Kinder vor allem auch untereinander zu verbessern. Am Morgen eines jeden Tages hat jedes Kind fünf Punkte, die in einer für alle sichtbaren Tabelle an der Wand eingetragen sind. Hält sich ein Kind nicht an die Regeln, so wird ihm ein Punkt abgezogen. Ist am Ende eines Tages nur noch ein Punkt übrig, so ist klar, dass dieses Kind als Aufgabe das Putzen der Toiletten übernimmt. Wer am Ende einer Woche keinen Punkt verloren hat, bekommt einen Gutschein für einen Tag ohne Aufräumaufgaben. Die Kinder haben dieses System gut angenommen und seitdem hat sich das Verhalten schon gebessert. Es ist zum Beispiel leichter, im Raum für Ruhe zu sorgen.

Vor Kurzem haben hier in Bolivien die Sommerferien begonnen. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, kommen aber weiterhin in das Projekt, doch mit kleinen Veränderungen. Zum Beispiel fällt die Aufteilung in Vormittags- und Nachmittagsgruppe weg. Alle Kinder kommen an den Vormittagen und wir haben mit individueller zusätzlicher Förderung in den Bereichen, die den Kindern schwerfallen, angefangen. Mehr in den Vordergrund sind jetzt auch gemeinsame Aktivitäten gekommen, wie zum Beispiel Sport und das Basteln von Weihnachtsschmuck. Das Projekt Wayra läuft jedoch wie gewohnt weiter. Die Arbeitszeit ohne Kinder nutzen wir, wie auch schon vor den Ferien, für Besprechungen und zum Vorbereiten von zukünftigen Aktivitäten und einer Menge Papierkram.

Natürlich habe ich hier vor Ort auch Freizeit, welche ich gerne in Gesellschaft von anderen verbringe, auch wenn ich nach der Arbeit oft müde und erschöpft bin. Zum Beispiel gehe ich jeden Dienstagabend zum Tandem, bei dem sich in einem immer anderen Café viele Menschen treffen, um in verschiedenen Sprachen miteinander zu sprechen und diese dadurch zu üben und teils auch zu verbessern. Die entstehenden Gespräche und Kontakte sind für mich eine echte Bereicherung. Was immer wieder schön ist, ist es mit Einheimischen zu sprechen, die eine Zeit lang in Deutschland waren und ihre verbliebenen Deutschkenntnisse noch einmal auf die Probe stellen wollen. Auch gehört für mich der Sonntagsgottesdienst in der nahegelegenen Gemeinde zu einer vollständigen Woche dazu. In den Gottesdiensten fühle ich mich wohl und auch die Kirche lädt dazu ein, sich Zeit zum Nachdenken über seinen Glauben zu nehmen. Allgemein ist es für mich nicht leicht, an weiteren Gebetszeiten teilzunehmen, was ich sehr bedauere. Wir leben hier zwar in dem Studierendenwohnheim der Josefschwestern, doch leider sind alle ihre Gebetszeiten für mich zeitlich mit der Arbeit und dem einstündigen Weg dahin nicht zu vereinbaren.

Doch leider ist auch nicht alles im Alltag so einfach. Was für mich zum Beispiel noch immer eine Herausforderung darstellt, ist das bolivianische Essen. Vor meiner Ausreise war ich eine lange Zeit lang Vegetarierin, das wollte ich für meine Zeit hier in Bolivien aufgeben, doch leider musste ich feststellen, dass mir das Fleisch hier gar nicht gut bekommt. Das ist sehr schade, da alle typischen Gerichte mit Fleisch zubereitet werden. So vertrage ich zum Beispiel auch das Mittagessen im Projekt nicht, weswegen ich mir mein eigenes Essen vorbereite und dann vor Ort esse.

Was ich auf jeden Fall für mein Leben mitnehmen werde, ist, was ich hier alles lerne. Dadurch, dass wir im Studierendenwohnheim und nicht direkt an die Schwestern angebunden leben, erlange ich eine viel weitreichendere Selbstständigkeit. Dadurch, dass wir zum Beispiel auch immer selbst kochen und dementsprechend auch einkaufen müssen, strukturieren wir unsere Tage noch einmal ganz anders. Auch viele neue oder vielmehr andere Dinge haben sich mit der Zeit in den Alltag integriert. Die Putzpläne mit den anderen bolivianischen Mitbewohnerinnen, das Wäschewaschen ohne Waschmaschine und auch das Abkochen des Wassers, bevor man dieses trinkt. Mein Leben hier ist einfach ein anderes und darüber bin ich sehr froh. Ich lerne viele Kleinigkeiten schätzen und genieße die Freiheiten und Pflichten, die ich neu erlangt habe.

In einem fremden Land, vielmehr auf einem fremden Kontinent, spielt natürlich auch die Sprache eine Rolle. Hier in Bolivien wird Spanisch gesprochen. Glücklicherweise hatte ich seit Beginn an kaum Probleme mit der Sprache, mit der Zeit wird es auch immer leichter. Aber nach acht Jahren Spanischunterricht, in denen meine Lehrkräfte immer viel Wert daraufgelegt haben, das Sprechen zu üben, habe ich das auch so erhofft. Ab und an mache ich grammatikalische Fehler und mir fehlen noch ein paar Alltagsvokabeln, aber mit Umschreibungen kommt man weiter, als man denkt. Und selbst wenn man die Sprache nicht spricht, sind hier alle, vor allem in der Fundación, unglaublich lieb und rücksichtsvoll und unterstützen einen gerne beim Lernen der Sprache. Vor allem die Kinder sind die besten Sprachlehrer*innen. Was ich sehr schön finde, ist, dass die Kinder auf die Frage wie ein Gegenstand auf Spanisch heißt, nach der Antwort auch oft erfragen, was es auf Deutsch heißt. So ist zum Beispiel das Wort „Eichhörnchen“ zum neuen Lieblingswort der Nachmittagskinder geworden. Gerne versuchen einige der Kinder mir Quechua, eine weitverbreitete indigene Sprache hier in Bolivien, beizuspringen, doch bei der Aussprache habe ich keine Chance.

Manchmal kommt es vor, dass ich vergesse, dass ich am anderen Ende der Welt von meiner Heimat, meiner Familie und meinen Freund*innen bin. Hin und wieder fühle ich mich wie in Spanien, speziell hier, wo wir wohnen, im Norden der Stadt. Ich habe auch gar nicht das Gefühl aufzufallen, bis die Kinder mich wieder daran erinnern, wie anders sie mich sehen. „Sind deine Haare gefärbt? Trägst du Kontaktlinsen?“ Ich scheine einfach angekommen zu sein. Und ich kann es nicht oft genug betonen, wie glücklich ich hier bin. Ich freue mich auf die kommenden neun Monate voller Erfahrungen und Gefühle.

Sarah