„Stell dir vor, du packst in deinen Koffer nichts außer einer Handvoll Träume. Stell dir vor, du musst nirgends ankommen. Du musst nichts schaffen. Du darfst einfach sein.“
Dieses Zitat hat mir meine Mutter als Postkarte mitgegeben, bevor ich für mein MaZ-Jahr nach Brasilien aufgebrochen bin. Seitdem begleitet es mich – als Erinnerung, als Ermutigung, manchmal auch als Herausforderung. Denn wirklich „einfach zu sein“, ohne etwas schaffen oder leisten zu müssen, das ist gar nicht so leicht. Aber es ist auch ein Geschenk. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich nicht unter Druck. Keine Klausuren, keine Leistungsnachweise, keine ständige Erwartung, etwas zu erreichen. Stattdessen darf ich mich selbst entdecken – meine Stärken, meine Grenzen, meine Interessen. Und ich darf für andere da sein – nicht indem ich Großes bewege, sondern indem ich mit ihnen Zeit teile, zuhöre, einfach präsent bin.
Ich arbeite seit acht Monaten im CIM – Centro de Integração do Migrantes, einem Zentrum für Migrant*innen in São Paulo. Es ist ein Ort, an dem Menschen verschiedenster Altersgruppen und Herkunft zusammenkommen – um Unterstützung zu finden, Gemeinschaft zu erleben, zu lernen oder einfach nur einen geschützten Ort zu haben. Dabei darf ich sie ein Stück begleiten. Natürlich war nicht alles von Anfang an leicht. Ich hatte durchaus den Wunsch, anzukommen – mich zurechtzufinden, die Sprache zu lernen, ein Gefühl von Zuhause zu entwickeln. Und auch wenn das nie ganz abgeschlossen ist, kann ich inzwischen sagen: Ich bin angekommen. Die Sprache wird mir vertrauter, die Arbeit ist zur Routine geworden, ich kenne die Menschen, ihre Eigenheiten, ihre Geschichten. Auch São Paulo fühlt sich nicht mehr an wie ein Labyrinth – ich finde den Weg zum Park oder zu meinem Lieblingscafé längst ohne Google Maps.
Meine Woche ist gut gefüllt und sehr abwechslungsreich. Montags beginnt mein Tag etwas später – um 9:30 Uhr gebe ich einen Englischkurs für Kinder zwischen 10 und 15 Jahren. Wir lernen einfache Dinge wie Farben, Tiere oder Früchte. Am Nachmittag kommt eine zweite Gruppe, und mittags essen wir alle gemeinsam – Mitarbeitende, Freiwillige, Schwestern. Abends unterrichte ich dann noch einen Englisch-Basiskurs für Erwachsene. Dienstags starten wir mit einer kurzen Andacht, danach bin ich für den Snack für die Kinder zuständig – mal gibt es Kuchen, mal Nudeln oder Popcorn, je nach Tagesform. Mittwochs ist Kreativzeit: Ich mache Kunstunterricht mit den kleinen Kindern und wir basteln je nach Anlass – Masken zu Karneval, Blumen zum Muttertag oder einfach, worauf wir Lust haben. Abends gibt es eine kleine Messe im CIM und danach nehme ich an einem traditionellen Tanzkurs teil, in dem wir zurzeit einen mexikanischen Tanz proben. Der Zusammenhalt in der Gruppe ist etwas ganz Besonderes. Donnerstags beginnt wieder mit einer Andacht, danach helfe ich erneut bei der Snackzubereitung. Freitags koche ich morgens für die Mitarbeitenden und verbringe den Nachmittag wieder mit den Kindern. Abends geht’s zum Zumba-Kurs – ein schöner Ausgleich nach der Woche.
Die Wochenenden nutze ich, um ein bisschen zur Ruhe zu kommen oder Zeit mit Freund*innen zu verbringen. Manchmal gehen wir in den Park, probieren eines der vielen Cafés oder Restaurants aus oder machen einen kleinen Ausflug – zum Beispiel ans Meer, wenn es sich ergibt. São Paulo bietet jede Menge Abwechslung, und es tut gut, neben der Arbeit auch die Stadt und das Leben hier besser kennenzulernen.
Was mir dieses Jahr zeigt: Es geht nicht darum, alles sofort zu verstehen oder überall hineinzupassen. Es geht darum, sich Zeit zu lassen. Nicht immer etwas leisten zu müssen, sondern auch mal einfach nur da zu sein – aufmerksam, neugierig, offen. Vielleicht ist genau das die Erfahrung, die am meisten bleibt. Und vielleicht ist das auch, was meine Mutter meinte, als sie mir das Zitat mitgegeben hat.
Veronika