MaZ: Warum es sich lohnt, früh aufzustehen

Am 7. September, vor nun fast zwei Monaten, stieg ich in den Flieger, der mich von Frankfurt über São Paulo nach Asunción, der Hauptstadt Paraguays, brachte. Dort blieb ich für zwei Wochen in einer Gastfamilie und besuchte eine Sprachschule, um meine Spanischkenntnisse zu verbessern – mit Erfolg.

Nach einer Woche war ich bereits schon in Argentinien, was für mich bedeutete mit dem "Colectivo", also dem Bus, weil es hier in Lateinamerika kaum Züge gibt, an die argentinische Grenze zu fahren; sieben Stunden Fahrt, was für die Verhältnisse in Argentinien keine Distanz ist. Grund meiner Reise war das Visum, das eingelöst werden musste.
Schwester Editha, eine der Schwestern, die im Provinzhaus in Posadas, also im Zentrum der Provinz Misiones, in der ich arbeite, wohnt, erwartete mich bereits und brachte mich über die Grenze, womit das mit dem Visum Gott sei Dank geklärt war. In Posadas lernte ich die anderen Schwestern kennen und das erinnerte mich schon alles sehr an Steyl und die anderen Kommunitäten in Deutschland, außer eben die Sprache.

Am nächsten Tag in der Früh musste ich allerdings schon wieder zurück, weil ich vor Sonnenuntergang in meiner Unterkunft in Asunción ankommen wollte, denn dort ist es nicht überall so sicher wie in Deutschland, vor allem nicht wenn man blond und weißhäutig ist. Nach der zweiten Woche in der Sprachschule machte ich mich dann nochmals nach Posadas auf, wo ich wieder herzlich empfangen wurde, am nächsten Tag dann aber in mein Projekt in Gobernador Roca fuhr.

Gobernador Roca, mein Einsatzort, liegt in der Provinz Misiones im Norden Argentiniens. Charakteristisch für diese Provinz ist die Natur und die "rote Erde". Es sieht wirklich wahnsinnig schön aus und hat einen gewissen Flair, wenn man hier durch die Straßen läuft, die man in Deutschland wahrscheinlich nicht mal als Straßen bezeichnen würde.
Auf jeden Fall wohnen in meinem Ort ca. drei- bis fünftausend Einwohner. Die Angaben variieren je nachdem, wen man fragt. Es gibt eine Kirche, die von einem polnischen Priester namens Pater Miguel geführt wird und unter anderem eine Reliquie von Papst Johannes Paul II. aufbewahrt. Mein Einsatzort ist das Altenheim "Hogar St. Vincente de Paul", das nach seinem Stifter benannt wurde. Hier wohnen um die 30 pflegebedürftige Menschen.

Als ich im Altenheim ankam, war richtig was los. Ein Gastpriester der Steyler Männer aus Córdoba, Pater Christian, der sehr charismatisch predigt und auch gerne mal laut wird, damit aber die Menge begeistert, erzählte ein bisschen, anschließend wurde ich dem Personal und Schwester Bertha, der Schwester mit der ich hier im Altenheim zusammen lebe, vorgestellt. Anschließend wurde ich direkt in die argentinische Küche eingeführt, denn es gab das besagte Asado (gegrilltes Rindfleisch).
Zum Altenheim kann man sagen: Es ist ein wunderschöner Ort. Es gibt ein Haupthaus mit Wohnzimmer, Küche und zwei Speiseräumen, zudem den Zimmern der "Ancianos" (Senioren) und eine kleine Hauskapelle. Um dieses Haupthaus liegt ein riesengroßes Grundstück. Es gibt noch eine weitere, größere Küche, wo eigentlich immer gekocht wird, einen Stall für Hühner, Gänse und Hasen, eine Ecke zum Grillen, einen Gemüsegarten und einige kleine Häuser. In einer dieser Häuser wohne ich. Sie sind nicht sonderlich groß und darin steht auch nur das Nötigste, aber ich bin ja nicht hier, um in einem schönen Häuslein zu sitzen, sondern will raus in den Kontakt mit den Menschen und der Kultur. Es gibt auch ein Bad neben meinen vier Wänden, das allerdings nur kaltes Wasser hat – im Haupthaus gibt es aber glücklicherweise noch ein anderes, mit wärmerem Wasser, was mich wirklich beruhigt hat.

Nun zu meiner Arbeit:
Ich kam an einem Donnerstag an, am Sonntag gab es das Patronatsfest im Altenheim. Das heißt es gab keine Einlebphase für mich. Ich musste direkt ran und helfen, für das Fest aufzubauen. Mit Marcelo, Carlos, Juan Martínez, Javier (den Männern, die im Heim arbeiten) und auch immer wieder dem kleinen, hilfsbereiten Josecito wurde den ganzen ersten Tag aufgebaut. Viel Unterstützung gab es auch von mehreren Schwestern aus Posadas.
Der Ertrag war ein superschönes Fest sowohl für die Bewohner des Heims als auch für alle Gäste. Ich glaube, es wurden mehr als 350 Kilo Fleisch verkauft und nach einem Gottesdienst an der frischen Luft den ganzen Mittag lang getanzt. Zudem wurden König und Königin des Heims gewählt – eine sehr süße und amüsante Sache. Wie das halt so ist, musste danach aber auch wieder alles aufgeräumt werden, was die nächsten Tage in Beschlag nahm.

Mittlerweile ist ein gewisser Alltag eingetreten, ich arbeite von Montag bis Samstag von morgens um 7 bis mittags um 1, danach ist Siesta (Schlafenszeit), an die ich mich mehr und mehr gewöhne. Mittags helfe ich zudem auch noch aus, wobei es dann um einiges entspannter ist.
Meine Arbeit ist relativ weit gestrickt und geht von Arbeit im Garten, zum Eier- oder Gemüsesammeln, über Putzen im Haupthaus bis hin zur Arbeit mit den Alten. Auch dort kann es sein, dass man mal nur Essen ausgibt. Aber ich helfe auch dabei, mal einen Alten von seinem Bett in den Rollstuhl und von dort ins Bad zu bringen oder ihm beim Umziehen oder Essen zu helfen.

Allerdings gab es schon einige erschreckende Ereignisse in den ersten Wochen, die allerdings den Alltag in dieser Arbeit begleiten:
Es gab beispielsweise schon einen Toten, der offen in einem Sarg aufgebahrt wurde und den ganzen Tag im Wohnzimmer lag. Für mich war es das erste Mal, dass ich einen toten Menschen im realen Leben sah und das machte mich schon ziemlich betroffen und auch ein bisschen ängstlich. Ebenso wirkte es im ersten Moment überfordernd, als eine Frau vor mir saß, die grade einen epileptischen Anfall bekommt, oder einem Mann, den ich gerade in sein Bett gelegt hatte, Blut aus dem Mund floss. Dies sind für mich Grenzerfahrungen. Und ich merke aber auch, wie sich die Grenzen auf einmal weiten.

Die Bewohner des Heims sind aber echt alle super nett und freuen sich immer, mich zu sehen, was mir täglich eine Freude macht. Und auch wenn ich nicht immer alles verstehe, macht es Spaß und Freude, sie beim Lachen zu erleben. Lachen tut Josecito auch sehr viel. Er lebt ebenso im Heim, aber dürfte mit Abstand der Jüngste sein. Keiner weiß viel über ihn, nicht, wie alt er ist, wo er herkommt oder seinen echten Namen. Hier schätzen ihn aber alle auf ca. 30 Jahre. Josecito oder auch Don José San Martín genannt, fand man vor ein paar Jahren im Grenzgebiet zwischen Argentinien und Paraguay. Er hat das Down-Syndrom und kann nicht sprechen, versteht aber Spanisch und auch Guaraní, was viel in Paraguay gesprochen wird. Die Arbeit mit ihm ist besonders. Er ist immer sehr fröhlich, sehr hilfsbereit und hat auch immer den Überblick. Er tanzt sehr gerne, schläft auch mal auf dem Sofa im Wohnzimmer ein und ist sehr anhänglich. Und obwohl er nicht redet, verstehen wir uns trotzdem echt gut und haben schon so ein paar Sachen gefunden, die uns beide ständig zum Lachen bringen.

Ich wohne hier mit Schwester Bertha. Ihr größtes Problem ist, dass ich für "BOCA" und nicht für "River" bin. Boca und River sind die zwei größten Fußballvereine Argentinies und pflegen eine große Rivalität.
Neben Sr. Bertha lebt hier noch eine zweite Schwester, Ana, eine sehr warmherzige Frau, mit der ich noch mit den Kindern der Ureinwohner arbeiten werde. Allerdings musste sie sich um ihre kranke Mutter kümmern, die mittlerweile auch verstoben ist. Sie meinte zu mir, ihre Mutter sei nun am gleichen sicheren Ort wie mein Papa und Gott passe auf die beiden auf, was ich sehr schön fand. Am Fest des Altenheims habe ich bereits einige Lehrer der Schulen kennengelernt und freue mich schon sehr darauf, auch in diesem Bereich zu arbeiten, wenn sie aus Buenos Aires zurückkehrt.

Da mein Projekt ja aus mitleben, mitarbeiten aber auch mitBETEN besteht noch etwas dazu:
Da ich nicht in der Kommunität lebe, sondern in einem Projekt der Schwestern, gibt es keine festen Gebetszeiten. Allerdings kommt einmal im Monat ein Priester zur heiligen Messe ins Altenheim. Außerdem beten wir oft mit dem Personal und es gibt Gottesdienste in der Gemeinde, die nicht weit weg ist.
Mit Pater Christian war ich einmal auf einem Treffen vieler glaubensbegeisterter Jugendlicher in Posadas. Dort ist mir aufgefallen, dass diese Jugendlichen viel Wert auf Charisma gelegt haben, und Tränen in Gottesdiensten und Anbetungen mit dazu gehörten. Teilweise brach die ganze Menge in Tränen und lag sich im Arm. Etwas komisch im ersten Moment für mich, auf der anderen Seite auch schön anzusehen, wie sich Menschen, die sich kaum kennen trösten, weil sie an dasselbe glauben. Es war eine einerseits bedrückende, im nächsten Moment aber total fröhliche Stimmung in dieser riesigen Halle und man könnte sagen, dass der Heilige Geist dort getobt hat.

Das war's jetzt erstmal von mir. Aber ihr merkt, es passiert sehr viel. Es gibt viele Impressionen, viele neue Gesichter und über allem die Sprache. Es wäre auch gelogen, wenn ich sagen würde, dass mir das aufstehen jeden Morgen um halb 7 super leicht fällt. Aber dabei helfen mir die Worte einer Brasilianerin aus Brandenburg, die mit Suchtabhängigen arbeitet. Sie meinte nämlich, man muss sich einfach jeden Morgen sagen: "Für Gott" oder "für die Menschen hier", und der erste Schritt fällt schon ein wenig leichter.

- Paul