MaZ: Das verlorene Schaf

Es ist sowohl für mich, als auch für die Schwestern und Kollegen immer wieder überraschend, wie bald ich schon abreise. Das Internat, die Kinder, meine Arbeit, das Leben hier, all das ist für mich schon zum Alltag geworden, aber nicht zu einer ewig gleichen und langweiligen Routine, sondern jeder Tag aufs Neue ist schön, da er schon das Vertraute in der Fremde geworden ist.

So gibt es natürlich nach wie vor immer wieder neue Sachen zu erfahren und zu erleben und es passiert ständig etwas Aufregendes oder es gibt Feste und Ereignisse.

So war eines der schönsten Wochenenden um den 22. Mai, denn dort feierten wir den Muttertag, den Vatertag und den Tag des Kindes mit einem einzigen Fest. Lange bereiteten wir alles dafür vor, berieten uns mit dem "Runden Tisch" der Schüler, ein Gremium von Schülern, die die Interessen der anderen Kinder und Jugendlichen im Internat vertreten und an uns Lehrer und die Schwestern herantragen, und informierten schließlich die Eltern.
Am Samstag, den 21. Mai fing eine Gruppe von Kindern schon früh an, das Essen mit einigen Müttern und der Köchin zuzubereiten. Dafür wurde über einem großen Feuer ein riesiger Kessel mit Wasser erhitzt und massenweise Mais gekocht. Allerdings nicht der uns bekannte gelbe, kleinkörnige Mais, sondern etwas hellerer und mit gut viermal so großen Maiskörnern.
Eine andere Gruppe von Vätern und älteren Jungs, bei der ich auch mithalf, trieb eines unserer Schweine aus dem Stall, schlachteten es, zogen die Haut ab (ein elendes und schwieriges Verfahren), nahmen es aus und zerlegten es. Danach wurden die Stücke mundgerecht geschnitten und gebraten. Hühnchen hatten wir aus der Stadt bestellt und zusammen mit Kartoffeln ebenfalls zubereitet. So entstand ein sehr leckeres Mahl, welches wir am Sonntag verspeisen sollten.

Als dann der nächste Tag, der Sonntag, anbrach, half uns der Pfarrer, alle Sachen, die wir brauchten, sprich Musikanlage, Dekoration, Preise und Materialien für die Spiele, Besteck und Plastikschalen für das Essen uvm., mit seinem Auto zur großen Sporthalle von Tapacarí zu fahren, wo wir dann alles dekorierten und herrichteten.
Nach und nach trafen dann alle Mütter und Väter ein, die Kinder waren schon vorher eingetroffen. Als dann alle da waren und auf den Tribünen der Halle Platz genommen hatten, fingen wir an - mit der Nationalhymne natürlich. Eine Lehrerin führte durch das Programm, welches aus Spielen und Tänzen, die die Kinder einstudiert hatten, bestanden.
Die Spiele bestanden aus Topfschlagen (für die Großen, die großen Spaß daran hatten), Reise nach Jerusalem für die Väter, ein Tanzspiel für die Mütter, Luftballontreten für die Kleinen und einiges mehr. Zum Schluss kamen wir Lehrer dran, denn wir hatten in der Woche vorher einen Tanz, den Tinkus (den ich direkt in meiner ersten Woche zu tanzen gelernt hatte), einstudiert und dann natürlich vorgestellt.
Die Tänze der Kinder waren nicht minder schön und mit viel Liebe und Ehrgeiz mit ihren jeweiligen Lehrerinnen aufgeführt worden. Während die Jüngsten noch viel Anleitung brauchten, tanzten die Älteren hervorragend. Ich war für die Musik zuständig und spielte als Hintergrundmusik oder als Begleitmusik der Tänze verschiedenste bolivianische Lieder – da sind richtig schöne Stücke bei gewesen.

Nach Ende des Programms gab es das am Tag zuvor vorbereitete Mittagessen und danach das Highlight, Piñatas (gefüllte Luftballons zum Zerstechen) für Kinder und Erwachsene, vier an der Zahl.
Nach einem langen Mittag brachen am Nachmittag dann die Eltern wieder nach Hause auf und wir putzten und räumten noch auf, bevor auch wir wieder zum Internat gingen. Dort war dann bis zum Abendbrot Freizeit und abends fielen wir müde aber sehr zufrieden in unsere Betten.

Ein zweites Ereignis war dann Anfang Juni, als uns das "Colegio Pedro Poveda" aus Cochabamba besuchte. Nicht das gesamte, sondern nur die 10. Klasse mit drei Lehrern, aber es waren trotzdem schon viele. Die jüngeren Kinder gingen während des Besuchs nach Hause und nur die älteren blieben da.
Am Anfang waren noch alle sehr zurückhaltend und man traute sich nicht mit den jeweils anderen Schülern zu sprechen. Aber als wir am nächsten Tag dann in die Berge zu einem der Dörfer aufbrachen, wurde mehr und mehr miteinander geredet, gelacht und gescherzt.
Die Schule hatte nämlich den Wunsch geäußert, sich zusammen mit uns sozial zu engagieren. Wir hatten auch schon direkt eine Idee. Eines der Bergdörfer wollte endlich mal eine eigene kleine Kapelle haben und so beschlossen wir, dass jeder einen Stein dort hochschleppt und wir oben weitere Steine suchen und zusammentragen, damit die Leute dann ihre Kapelle bauen konnten.

Oben angekommen machten wir dann eine Menschenkette und gaben Stein um Stein weiter, die wir dann aufhäuften und so schon die Grundsteine für die Kapelle brachten. Das Ganze war allerdings eher symbolisch zu sehen, denn selbst mit 400 Steinen kann man noch keine passable Kapelle bauen, doch die Zusammenarbeit brachte uns noch näher und in den Austausch.
Nach einem Mittagessen in dem Dorf brachen wir zu den nahegelegenen heißen Quellen auf (ca. ein bis zwei Stunden Fußmarsch). Das sind natürliche Wasserterrassen, die sich aus einer heißen Quelle, die aus den Bergen fließt, speisen.
Dort badeten und planschten wir ausgiebig, bis wir dann abends zu den Bussen aufbrachen, die am Flussbett warteten und uns dann zum Internat zurückbrachten.
Dort angekommen spielten wir dann noch Fußball, jeweils die Jungen oder Mädchen gegen jene aus der anderen Schule. Sowohl unsere Jungs, als auch die Mädchen gewannen gegen die Städter, die einfach noch nicht an die dünnere Luft gewohnt waren (Tapacarí liegt einige hundert Meter höher als Cochabamba).
Auch an diesem Abend fielen alle wieder müde aber sehr glücklich in ihre Betten.

Was auch immer ein großes Ereignis ist, ist der LKW, der alle zwei Wochen kommt und uns mit Vorräten versorgt. Er hält vor dem Tor, das zu unseren Vorratslagern führt, hupt und schnell kommt das ganze Internat zusammen.
Die Kleineren klettern dann am LKW hoch und spielen dort, während die älteren Jungs beim Abladen helfen und dann Säcke mit Mehl, Zucker, Reis, Nudeln und vielem mehr abladen.
Die Mädchen schauen immer zu und geben kritische Tipps oder helfende Kommentare, wie die Jungs noch besser und schneller arbeiten könnten.
Die Köchin und ich koordinieren, wo was hinkommt, und helfen ebenfalls beim Abladen und die Schwestern besprechen die Rechnung.
So hat jeder etwas zu tun und sobald alles abgeladen ist, ist der Trubel auch schon wieder vorbei, aber es hat jedes Mal was Besonderes, da zum einen alle zusammenkommen, zum anderen man mal sieht, was man in zwei Wochen mit über 120 Personen alles isst, woher die Vorräte kommen und auch welche Arbeit da für uns darin steckt (die Säcke wiegen bis zu 50 kg).

Ebenfalls ein großes Thema in diesen Monaten ist das Wasser. Normalerweise regnet es hier in der Regenzeit (von November/Dezember bis März/April) durchgehend und viel.
Allerdings ist dieser Regen dieses Jahr ausgeblieben. Es regnete zwar an einigen Tagen sehr viel und stark, aber eben nur an einzelnen Tagen. Dadurch bekamen wir ein Wasserproblem. Die Bauern fuhren keine so guten Ernten wie sonst ein, immer wieder blieb das Wasser aus der Leitung aus, mühsam müssen wir bis heute oft Wasser vom Fluss holen, um zu putzen und zu waschen. Das Wasser, was aus der Leitung kommt, wird zum Kochen und selten zum Putzen verwendet.
An den Samstagen, die wir hier bleiben, gehen wir immer zum Fluss zum Baden und Waschen; wenn wir Kleidung waschen wollen, gehen wir zum Fluss; um morgens zu wischen, wird am Vortag Wasser vom Fluss geholt. Auch das ist eine total neue Erfahrung für mich gewesen.
Aber man lernt dadurch das Wasser nochmal neu zu schätzen und auf seinen Verbrauch zu achten. So war ich an einem Wochenende mal wieder in der Stadt und sah dann wie vor einem Haus jemand seinen grünen Garten wässerte. Das hat mich in diesem Moment richtig wütend gemacht, weil der Garten sowieso schön grün war und wir oft nicht mal zum Putzen genug Wasser haben.

Ansonsten werde ich nach wie vor als Krankenpfleger auf Trab gehalten, durch Platzwunden, Bauchschmerzen, Prellungen, Wunden uvm. und meine Aufgabe als Bibliothekar gefällt mir immer noch sehr gut, auch wenn es anstrengend sein kann, wenn fünf Jugendliche gleichzeitig fünf verschiedene Themen erklärt haben wollen. Multitasking lernt man hier auch.
Zudem ist der Winter hier angebrochen und morgens und abends kann es schon sehr kalt werden. Warme Sachen waren das ganze Jahr über im Kleiderschrank und ich fragte mich schon, warum ich die überhaupt mitgenommen habe, aber jetzt zeigt sich, weshalb das sehr nötig war.

Auch gibt es immer wieder Treffen in Tapacarí, bei denen das gesamte Dorf zusammen kommt und über wichtige Themen und Anlegen diskutiert. Wer nicht kommt, zahlt 100 Bolivianos Strafe und das Wasser (was ja nur spärlich kommt) wird bis zur Strafzahlung abgestellt.
So ging es uns (dem Internat, ich war mit einer Schwester dort) um unseren Sportplatz unten am Internat. Der sollte einem Anbau des Krankenhauses weichen, der meiner Meinung und der einiger anderer auch allerdings nicht von Nöten ist.
Der Sportplatz ist zwar auf öffentlichem Grund gebaut, wurde allerdings mühsam von den Eltern und Kindern des Internats vor vielen Jahren erbaut. Außerdem ist das ein zentraler Punkt, an dem die Kinder spielen können und sich das Dorf abends trifft.

So legten wir unser Anliegen und unsere Argumente vor. Unterstützt wurden wir vom Pfarrer und einigen Eltern. Im Moment sieht gut aus, sodass der Anbau kleiner ausfällt und der Platz nicht weichen muss. Wir sind noch gespannt.
Am Ende des Treffens meinte ich zu einer Lehrerin, die selber in den Bergen wohnt, dass es immer wieder nur um das gleiche ging, fünfmal alles wiederholt wurde und sich das Treffen ewig hinzog.
Sie bestätigte mir das und meinte, die Treffen in den kleinen Dörfern in den Bergen seien viel schlimmer. Die würden oft (mit Unterbrechung) von morgens neun bis abends fünf gehen. Verwundert wollte ich wissen, über was denn so lange gesprochen wird und erfuhr daraufhin von ihr, dass alle immer alle ihre Probleme und Ärgernisse darlegen.
So geht es hauptsächlich darum, welche Ziegen und Schafe von welchem Feld gefressen haben und welcher Schaden dabei entstanden ist. Entschädigung wird dann in Form von Schafen, Ziegen, Hühnern oder Lebensmitteln (ein Sack Weizen o.ä.) beglichen. Auch das war wieder etwas Neues und Überraschendes, was ich da erfuhr.

Für mich geht die letzte Woche vor den Ferien zu Ende, die starten hier am 1. Juli. Wie gesagt gehe ich dann drei Wochen auf Reisen und bin danach nochmal zwei Wochen in meinem Projekt, bevor es für mich schweren Herzens nach Hause geht.
Es ist schon jetzt nicht leicht für mich an Abschied zu denken, was noch erschwert wird, wenn ich von den Schwestern, Lehrern und Kindern immer höre, ich solle doch noch bleiben.
Es war für mich ein sehr prägendes, schönes und ereignisreiches Jahr, welches ich sehr traurig und gleichzeitig glücklich und zufrieden beenden werde.


Eine kleine Anekdote zum Schluss – Das verlorene Schaf
(Zu Lk 15, 4-7 oder Mt 18, 12-13)

Durch dieses Gleichnis neugierig geworden fragten wir mal einen der Hirten hier, ob er denn ein Schaf, das er "verloren" habe, auch suchen würde oder wie er das handhaben würde.
Er antwortete uns, dass er seinen Hirtenjungen bei der Herde lassen würde und selbst losziehen und das Schaf suchen würde.

Und was macht er, wenn er es findet?
Dann bringt er es nicht zur Herde zurück, sondern schlachtet es. Warum? fragten wir verwundert. Weil, so die Antwort, erstens die anderen Schafe so merken, dass sie nicht abhauen dürfen, und zweitens das verlorene Schaf immer und immer wieder wegrennen würde, würde man es nicht schlachten.

Wir merkten also, dass Gott da etwas mehr Gnade walten lässt mit seinen verlorenen Schafen.

- Jakob