MaZ: Ein Kreis, der sich schließt

Als ich vor fast genau einem Jahr hierher nach Indien kam, wusste ich nicht, was mich erwartet. Angekommen im Provinzhaus der Provinz Nordosten in Guwahati bei fast unerträglichen 45 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 98 % hoffte ich, dass entweder in Haflong das Klima kühler sei oder ich mich so schnell wie möglich gewöhnen würde. Zum Glück liegt Haflong auf einem Berg umringt von Bergen und das Klima ist angenehm.

In den ersten Wochen wartete ich auf meine Registrieung und nach unendlich vielen Ämtergängen durfte ich nach Haflong weiterreisen. Jetzt bin ich wieder im Provinzhaus und wieder hat es 45 Grad und eine Luftfeuchtigkeit von 98 %.
Wieder warte ich auf meine Weiterreise, diesmal aber nicht nach Haflong, sondern nach Deutschland, und wieder musste ich zum gleichen Office, um mich abzumelden und eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen und wieder war die gleiche junge hilfsbereite und gleichzeifitg etwas gelangweilt wirkende Dame dort. Da ist mir aufgefallen, dass jetzt, wo ich hier bin, sich ein Kreis schließt, der im letzten Jahr begonnen hat. Hier in Indien hat der Kreis oder das Rad eine besondere Bedeutung. Sogar auf der indischen Flagge ist es im Zentrum und steht in diesem Fall für Unabhängigkeit.

In Haflong gibt es neben den Steyler Missionsschwestern noch Don-Bosco- Brüder und Missionsschwestern Unserer-Lieben-Frau. Wie auch bei den Steyler Missionsschwestern gab es vor Ostern Versetzungen. Unter anderem wurde unser Pfarrer versetzt, dem ich sehr viel zu verdanken habe z.B. Besuche in anderen Pfarreien und Dörfern und ein Treffen mit dem Bischof. Nun, am Ende meines Jahres, habe ich ihn nochmal durch Zufall getroffen. Auch eine Schwester der anderen Kongregation, von der ich mich damals leider nicht verabschieden konnte, durfte ich noch einmal treffen.

In Indien und auch unter den Tribes (kleinere Ethnien) ist es Sitte, dass man nach dem Tod eines Familienangehörigen seine Mitmenschen zum Essen einlädt, so ähnlich wie bei uns der Leichenschmaus, nur nicht nach der Beerdigung, sondern nach ein paar Tagen, Wochen, Monaten. Eine unglaublich ergreifende Erfahrung war für mich, dass auch wir sehr oft von uns fremden Personen zum Essen eingeladen wurden, obwohl der Patient bei uns im Krankenhaus gestorben ist. Nie habe ich erlebt, dass Angehörige auf uns sauer waren oder uns die Schuld am Tod eines Patienten gegeben haben.
Ziemlich am Anfang des Jahres wurde eine Dame aus Bangladesch, dessen Grenze nicht allzu weit von Haflong verläuft, gebracht. Ihre Angehörigen sind mit ihr aus Bangladesch geflohen, um ihr gute medizinsche Versorgung zu ermöglichen. Die Frau hatte mehrere Tage über Brustschmerzen geklagt und da ihre Tochter in Haflong lebt, haben ihre Söhne sie zu uns gebracht. Nach einer kurzen Reanimation, mussten wir sie aber für tot erklären.

Ich habe viele Trauernde gesehen. Interessanterweise trauern die Tribes alle unterschiedlich. Es gibt Tribes die schweigen und andere schreien sich die Seele aus dem Leib. Auch Bengalen lassen ihre vollen Emotionen raus und unglücklicherweise waren die Angehörigen der Frau derart traurig, dass sie unser Treppengitter aus der Wand gerissen haben. Am nächsten Tag kamen die Söhne mit Hammer und Meißel und haben es repariert und sich entschuldigt und gleichzeitig uns gedankt.
Vor einem Monat kam die gleiche Familie wieder zu uns. Der Enkel der oben genannten Verstorbenen ist ausgerutscht, auf eine in der Erde verankerte Mettalstange gefallen und hat sich seinen linken Oberarm von der Schulter runter zur Hand aufgerissen, seinen Bizeps weggerissen, Nerven durchtrennt und den Oberarmknochen angeborchen.
Leider hat der Junge zu viel Blut verloren und einen Schock erlitten, weshalb auch er, wie seine Oma, bei uns gestorben ist. Die Trauer war groß, doch ein paar Tage später kam die ganze Familie um sich zu bedanken. Kurz vor meiner Abreise kam die Familie wieder. Das jüngste Familienmitglied hatte Durchfall, aber mit ein paar Spritzen und Infusionen war alles wieder gut. Am Tag meiner Abreise kamen sie alle nochmal mit bengalischen Süßigkeiten, die unglaublich lecker und dafür auch berühmt sind, um sich bei uns für unsere tolle Arbeit, nicht nur bei dem Baby, sondern auch bei der Oma und den Enkel zu bedanken.

Es waren oft die trauernden Familienmitglieder, die mir persönlich den Tod von Patienten leichter gemacht haben, denn das ist nur eines von unzähligen Beispielen. Oft kamen Geheilte nochmal zu uns, Babys, die bei uns im Krankenhaus geboren wurden, aber auch Angehörige von bei uns Verstorbenen, um sich zu bedanken, wodurch sich immer ein Kreis geschlossen hat.

Die Provinz "Nordosten" ist die jüngste und kleinste Provinz der Steyler Missionsschwestern hier in Indien. Die Schwestern haben in vier von sieben Bundesstaaten im Nordosten Missionen. Durch viele glückliche Zufälle und wegen der Großzügigkeit der Schwestern durfte ich alle Missionen besuchen, in einer sogar für etwas länger mitleben.
Zwar nur 20 km, aber mit dem Jeep trotzdem eineinhalb Stunden entfernt, ist Gunjung. Dort betreiben Jesuiten eine Schule mit Internat für Mädchen und Jungen und haben das Mädcheninternat den Schwestern anvertraut. In Gunjung lebt der Tribe der Dimasa, die im Gegensatz zu vielen anderen Tribes hier im Nordosten, zu 99 % ihre Naturreligion ausleben. Wer zum Christentum konvertiert, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, verstoßen und darf sich nicht mehr Dimasa nennen. Die Jesuiten und die Schwestern werden aber geduldet, da sie Bildung und damit Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit sich bringen.
Nach der Einladung der Schwestern und der Jesuitenpatres habe ich mich entschlossen, für eine Woche dort mitzuleben und durch Schule und Internat einen ganz neuen Einblick in die Missionstätigkeiten der Steyler zu bekommen. Hier in Indien sind Internate für sehr arme Kinder, die aus abgelegenen Dörfern kommen, wo es oft keine Schulen gibt.
Die Schwestern sind nur zu zweit, weshalb ich bei 120 Internatskindern im Alter von drei bis sechszehn Jahren eine willkommene Unterstützung war. In den Klassen IX und X war im Geschichtsunterricht gerade der Zweite Weltkrieg Thema. Ich als Deutsche sollte diese Themen besprechen und konnte die Erfahrungen meiner Großeltern, von Besuchen im KZ und von der heutigen Stimmung gegen Ausländer, Flüchtlinge und Juden erzählen.
In den letzten Jahren waren die Dimasa sehr oft in heftige und grausame Kämpfe mit anderen Tribes involviert, weshalb wir zu sehr interessanten Diskussionen über "Erbschuld" und der Verantwortung von Fehlern in vorherigen Generationen gekommen sind.

Die absolute Lieblingsbeschäftigung aller Tribes ist singen. Es gibt kein Fest ohne Gesang und Musik und keine Tätigkeit, egal ob putzen oder operieren, wird ohne Gesang vollbracht. Schon kleine Kinder haben Engelsstimmen und eine Schulklasse wird zum vierstimmigen Chor, da sie einfach so zur Melodiestimme, zweite, dritte, vierte Stimmen improvisieren. So waren sie voller Freude, als ich ihnen deutsche Lieder beigebracht habe, und noch nie habe ich jemanden "Wo ein oder zwei...", "Auf der Mauer, auf der Lauer..." und "Das ist Versöhnung..." derart wunderschön singen hören.
Mit viel Freude und Spaß wurden auch deutsche Gesellschafts- und bayrische Volkstänze getanzt, die dann bei der nächsten Feierlichkeit zu Labrassbanda gleich aufgeführt wurden. Die Gemeinsamkeiten, die die Schüler gefunden haben, wie z.B. Hopfenbier und Reisbier, tanzen im Kreis zu einem Blasinstrument unserer beiden (derDimasa- und der bayrischen) Kulturen, sind erstaunlich und da mein Nachname (Langmesser) ja fast wie ein Clan-Titel (Langthasa) klingt, wurde ich ganz offiziell zu einer "FAST-Dimasa" erklärt.
Die Tage, die ich dort ohne fließend Wasser und Strom verbringen durfte, waren wirklich eine große Abwechslung zum Krankenhausalltag. Ich habe sie sehr genossen.

Kurz darauf hat mich eine Schwester gefragt, ob ich Lust hätte, sie zu einem Vortrag an einer unserer Schulen nach Tripura zu begleiten. Tripura ist ein weiterer Bundesstaat im Nordosten, liegt wie eine Halbinsel in Bangladesch und fünf von zehn MIssionen der Schwestern sind dort.
Nach Tripura kommen viele Flüchtlinge aus Bangladesch. Da Bangladesch ein muslimisches Land ist und keinen Hinduismus erlaubt, fliehen die Hindus nach Indien. Indien, das im Moment eine hindu-nationalistische Regierung hat, heißt diese mit offenen Armen willkommen.
Das Problem ist aber, dass die Bengalen den dort ansässigen Tribes ihr Land geraubt und sie aus dem Flachland vertrieben haben. Die Tribes mussten sich in die Berge zurückziehen. Da die Tribes erst sehr spät Schulbildung erhalten haben, haben sie ihr Land, riesige Flächen, für 10 Rupien (umgerechnet 14 Cent) verkauft, sie haben deshalb kein Recht mehr auf dieses Land. Alle Missionen der Schwestern sind Schulen und/oder Internate für die Tribes.
Innerhalb einer Woche haben wir alle Missionen abgeklappert. In einer, in der die Schwester den Vortrag über Empathie und Zeitmanagment für die Lehrer gehalten hat, durfte ich für drei Tage mitleben.

Zu guter Letzt kam für die Schwestern das lang ersehnte Highlight dieses Jahres: Die Neueröffnung einer Mission in Arunachal Pradesh, dem nordöstlichsten Bundesstaat Indiens, auf den auch China Anspruch erhebt. Ich habe eine Extrasondererlaubnis gebraucht, damit ich einreisen durfte. Die ersten Tage habe ich mit der Schwester, die ich nach Tripura begleiten durfte, im Bischofshaus verbracht.
Die Schwester war früher Provinzleiterin im Süden, dann Leiterin der Region Nordosten, hat die Region zu einer eigenen Provinz gemacht und war dann Provinzleiterin. Sie ist nicht nur sehr beliebt, sondern hat durch ihre Arbeit auch sehr viele Kontakte, die auch mir zu Gute kamen. Auch der Bischof ist ein alter Freund von ihr, deshalb hat er uns durch die ganze Diözese geführt. Nach einem längeren Zwischenstop in Ziro ging es nach Mengio weiter.
In Ziro lebt der Stamm der Apatani. Die Frauen haben auffällige Gesichtstattoos und Holzplatten in Ohren und Nasen, da sie als unglaublich schön gelten und früher vom befeindeten Stamm geraubt wurden. Diese Tattoos wurden sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Mittlerweile machen es die jüngeren Frauen nicht mehr, weshalb sie wohl in ca. 15 Jahren verschwunden sein werden. Es gibt viele Kulturen und Traditionen hier im Nordosten, die bald aussterben werden.

In Mengio betreiben die Schwestern mit Patres einer örtlichen Kongregation eine Schule mit Internat. Hier lebt der Tribe der Nischi. Bei den Nischi gibt es die ebenfalls aussterbende Tradition, dass ein Mann mehrere Frauen hat. Mit einer Sondererlaubnis des Paptes dürfen die Menschen hier die Kommunion empfangen. Dort habe ich ganz offiziell und feierlich den Preis als "the first foreigner" bekommen, durfte mich im Gästebuch registrieren und habe einen traditionellen Hut, ein traditionelles Schwert und einen traditionellen Rucksack verliehen bekommen. Aufgrund der Zollbestimmungen kann ich aber weder den Hut (an dem ein echter Vogelschnabel montiert ist) noch das Schwert (mit einer halben Meter langen Eisenklinge) mitnehmen.
Wegen meiner großen Größe, die für hier sehr ungewöhnlich ist, haben mich die Kinder begeistert als menschliches Klettergerüst benutzt, was für die Kinder und für mich sehr lustig war, und haben mit mir ihre sorgfälltig eingeteilten und wenigen Süßigkeiten geteilt. Diese Mission im Himayala ist wirklich sehr besonders und ich hoffe, dass es nicht das letzte Mal war, dass ich die Menschen dort besuchen durfte.

Anfang der Woche durfte ich mit unserer Provinzleiterin die für mich letzte Mission Phramer besuchen. Dort wurde das Haus neugebaut und wir sind mit dem Künstler der neuen Kapelle hingefahren, um ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Dort werden die Terziatsschwestern auf ihre ewige Profess vorbereitet. Denn die Ausbildung der indischen Schwestern wurde auf die vier Provinzen Indiens verteilt und im Nordosten machen sie sozusagen ihren letzten Schritt. Mit zwei der elf Juniorsisters, die sich dort nun vorbereiten, war ich bis Juli in einer Kommunität und Wiedersehensfreude und der Abschiedsschmerz groß.
Phramer liegt im Bundesstaat Meghalaya, einem komplett christlichen und matriarchalen Bundesstaat. Da fast der ganze Staat auf einer hügeligen Hochebene liegt, ist es für indische Verhältnisse sehr kalt, es wachsen dort auch Nadelbäume. Diese Reise hat meine Vorfreude auf Deutschland sehr gesteigert, denn dort hat es wegen der Kiefern und Tannen schon wie zuhause gerochen.

An meinem Ankunftsabend hier in Indien in Guwahati gab es Schokoladeneis, heute Abend an meinem letzten Abend in Indien gibt es auch Schokoladeneis. Ein Kreis, der sich schließt.

- Anna