Die Hochleistungskuh

Glückliche Kühe sind selten geworden. Die meiste Zeit ihres kurzen Lebens pendelt eine Kuh zwischen Futtertrog, Liegeplatz und Melkmaschine. Immer darauf getrimmt, möglichst viel Milch zu geben.

Wachstum – das Holstein-Kälbchen Nr. 67109822 kommt mit etwa 40 Kilogramm Körpergewicht zur Welt, in den nächsten zwei Jahren wird es sein Gewicht mehr als verzehnfachen. Es wird dann zwischen 600–750 Kilogramm wiegen. Durch gezielte
Züchtung und die Zugabe von Kraftfutter steigt die jährliche Milchleistung einer mitteleuropäischen Durchschnittskuh, der schwarz-weiß gescheckten Holstein-Friesian, seit
1950 jedes Jahr stetig an. Die Anatomie der Holstein-Kuh hat sich in den letzten Jahrzehnten ebenfalls ganz auf ein großes, leistungsstarkes Euter hin verändert, so ist die heutige Kuh ein Wunderwerk der Zuchtkunst.

Das Holstein-Kälbchen Nr. 67109822 guckt neugierig aus der Umzäunung seines kleinen, weißen Iglus heraus. In dieses Iglu ist Nr. 67109822 wenige Stunden nach seiner Geburt eingezogen. Die Trennung von Mutter und Kalb ist obligatorisch, genauso, wie die Tatsache, dass das Kälbchen nur in den allerersten Stunden seines Lebens Muttermilch trinkt; dann
wird umgestellt – auf Milchersatz. Seine Mutter wird parallel jeden Tag zwei bis drei Mal gemolken und so in den zehn Monaten, bis zu ihrem nächsten Kalb, etwa 10 000 Liter
Milch geben. Vor 30 Jahren gab eine Kuh im Schnitt nur halb so viel Milch im Jahr.

Kälbchen Nr. 67109822 ist weiblich. Zum Glück. Da die Zucht besonders auf die Milchleistung fokussiert ist, setzen die Tiere kaum an und sind somit nur bedingt zur Mast geeignet. Für männliche Kälbchen gibt es somit keine „sinnvolle“ Verwendung mehr. Wenn Nr. 67109822 nach etwa zwei Jahren, kurz bevor sie richtig ausgewachsen ist, ihr erstes Kälbchen bekommen hat, wird sie den Alltag der anderen Milchkühe teilen. Ein Rhythmus zwischen Futtertrog, Liegeplatz und Melkmaschine. Je nach Bauernhof haben die Tiere Freilauf auf der Weide. Kälbchen Nr. 67109822 darf in den Sommermonaten, wenn es trocken und nicht zu warm ist, für ein paar Stunden auf die Weide, der Tagesablauf vieler anderer Kühe ist jedoch so getaktet, dass ein Weidegang nicht hineinpasst. Außerdem sind schwarz-weiß gescheckte Holstein-Kühe sensibel. Kühe generell, aber besonders die Holstein-Friesian ist alles andere als robust und krankheitsresistent.

Die Hochleistungskuh ist ausgezehrt. Ihr Körper produziert jeden Tag vier bis fünf Mal so viel Milch, wie ein Kälbchen überhaupt trinken könnte. Das laugt den Körper aus. Ohne das Zufüttern von Kraftfutter wäre die tägliche Milchmenge von über 30 Litern nur schwer leistbar. Nach drei bis vier Kälbchen, wenn Nr. 67109822 etwa fünf bis sechs Jahre alt ist, ist das einzig dicke an ihr das Euter. Nach gut vier bis fünf Jahren der intensiven Nutzung ist
Nr. 67109822 als Milchlieferant nicht mehr rentabel. Sie kostet den Bauern mehr, als sie einbringt. Ihr letzter Weg steht an; via Tiertransport werden alle Kühe, die nicht mehr ein weiteres Jahr trächtig werden und somit keine Milch mehr liefern, abtransportiert und zu einem industriellen Schlachthof gebracht.

Nr. 67109822 wird diese erste und letzte Reise mit einem Viertel ihrer Lebenserwartung antreten. Die Lebenserwartung einer Kuh unter natürlichen Bedingungen beträgt 20 Jahre. Die Lebensleistung in Form von Milch wurde in den letzten fünfzig Jahren vervierfacht, die Lebenserwartung dagegen beträgt nur noch ein Viertel. Dieses Wachstum hat seinen Preis – und offenbart die Beziehung zwischen Mensch und Tier.

Sr. Ida Haurand

Der Text ist aus dem in:spirit-Magazin zum Thema Wachstum. Hier kannst Du Dir das ganze Magazin herunterladen.