MaZ: Ankommen, Lernen und irgendwann hoffentlich verstehen

Welche Eindrücke Samuel von seiner Arbeitsstelle und von der Großstadt São Paulo bereits gesammelt hat, was ihm am Zusammenleben mit den Schwestern gefällt und was den Missionar auf Zeit ins Grübeln bringt, beschreibt er in seinem Rundbrief.

„Man versteht einen Menschen erst dann wirklich, wenn man die Dinge aus seiner Sicht betrachtet … bis man in seine Haut schlüpft und in ihr herumläuft." – Atticus Finch in to Kill a Mockingbird (Harper Lee)

Lange frage ich mich jetzt schon, wie ich diese Reihe von Rundbriefen angehen soll… was soll im Mittelpunkt stehen, was nicht, was interessiert euch, was ist aber auch wichtig zu erwähnen, wie schaffe ich das mir Erfahrene transparent zu übermittelt und vor allem, wie formuliere ich so, dass Missverständnisse, Stereotype, sowie Vorurteile direkt zu Beginn auf der Strecke bleiben?

Große Fragen, die eigentlich klare Antworten benötigen, bei denen ich jedoch das Gefühl habe, dass sich der Großteil wohl erst durch „den Groove der Zeit“ beantworten lassen wird. Klar ist, hierbei geht es keineswegs um mich, sondern um Land, Kulturen und Mitmenschen.

Um nun also nach diesem eher philosophisch-angehauchten Intro in die Thematik der letzten Wochen einzusteigen, eine komprimierte Zusammenfassung von vier Wochen São Paulo:

Aktuell lebe ich bei zwei, manchmal drei, sehr lieben katholischen Schwestern (Malgarete, Janice und Alice), wobei die beiden erstgenannten zwei tragende Persönlichkeiten bei meiner Arbeitsstelle darstellen. Das Einleben fällt mir einfacher als gedacht und das Essen hier schmeckt super. Allerdings braucht man für alles hier eine CPF (Steuernummer), ohne die man hier nicht weit kommt. Überraschung, natürlich besitze ich diese noch nicht, weswegen vieles noch länger dauert als es müsste.

Ich lerne. Nicht nur Portugiesisch, sondern ich wurde in den letzten vier Wochen mit deutlich mehr Lernmaterie konfrontiert als bei meinem Abitur. São Paulo ist eine riesige Salatschüssel voller Kulturen, wovon ich gerade einmal an den Topics schnuppern durfte. Meine gute Freundin und Lehrerin Maryam hat vor gut einem Jahr, als ich bei ihr zum Englischlernen in New York war, den Begriff „multiculturally diverse“ (Multikulturelle Diversität) gebraucht, der äußerst zutreffend für diese schier endlos große Stadt ist. Insbesondere das Viertel, was ich mein Zuhause nennen darf, Bràs, ist geprägt von kultureller Vielfalt, Migration und dem Handel von Kleidung. Das CIM (Centro de Integração do Migrante), in dem ich den Großteil meiner Freiwilligenarbeit leisten werde, ist in diesem Viertel Anlaufpunkt für all diejenigen, die Hilfe, Rat und Unterstützung brauchen. Dort werden nicht nur die unterschiedlichsten Kurse - von Kunsttherapie bis Kochen - angeboten, sondern es gibt Möglichkeiten zur sprachlichen Weiterentwicklung, dem interkulturellen Austausch und der Entlastung durch eine Kinderbetreuung. Zudem gibt es in regelmäßigen Abständen sogenannte „Health-Events“, bei denen Fachkräfte über Gesundheit, Körperpflege und Infektionsschutz aufklären.

In meinen ersten Wochen hier habe ich insbesondere mit den Kindern gespielt und da angepackt, wo ich konnte. In den nächsten Wochen soll dann langsam die Idee einer eigenen Unterrichtsstunde in bspw. Englisch, Sport oder etwas Kreativem entwickelt werden, was alles jedoch nur mit sprachlicher Grundlage möglich ist.

Zusammengefasst: Vielfältiges und extrem wichtiges Angebot, das Integration, Weiterbildung und Austausch fördert und mir die Möglichkeit zum flexiblen Engagieren ermöglicht.

Ein weiterer Punkt, der mich in seiner Grundthematik schon relativ lange beschäftigt und welcher einem hier sehr stark vors Auge geführt wird, ist der der sozialen Ungerechtigkeit. Der Spalt zwischen Arm und Reich, die Verteilung von Vermögen und Macht, sowie die unterschiedlichen Lebensrealitäten, sind öffentlicher Teil des Stadtbilds. Ähnlich wie in Frankfurt, jedoch in deutlich größerem Rahmen, müssen viele ihre Nächte unter freien Himmel, mit Blick auf Behörden, stark gesicherten Wohnkomplexen und Einkaufsstraßen verbringen. Es klingt beim Beschreiben doch fast schon ironisch, wie so etwas kalter Alltag von vielen Individuen und Familien sein kann.

Bei meiner täglichen Interaktion mit dieser Stadt, bin ich immer wieder davon „überrascht“, wie schnell sich die Lebensrealität von Stadtteil zu Stadtteil verändert und unterscheidet.

Um das Ganze im Folgenden in einen sachlichen Kontext zu setzen, muss ich im Zusammenhang zu meinem neu entfachten Grübeln über die Missstände dieser Welt, eine Diskussion erwähnen, welche ich als Konsequenz auf die Landtagswahlen in Hessen und Bayern mit einem Familienvater in der Kommentarsektion eines Tagesschau-Beitrags hatte. Er unterschied in „Förderer“ und „Nichtförderer“ eines Systems, wobei er den Begriff des „Nichtförderers“ all denjenigen zusprach, die als Folge ihrer aktuellen Situation keinen ausreichenden Beitrag zum Wachstum von Wirtschaft und Umsatz leisteten, d.h. bspw. all denjenigen, die ihr Nächte wie hier, ABER auch in Deutschland unter freiem Himmel verbringen müssen. Was ist also passiert, dass manche die Mitmenschen nur noch durch ihre Einsetzbarkeit in einem sich selbstständig gemachten System bewerten? Dass wir diese soziale Ungerechtigkeit täglich beobachten, ohne zu hinterfragen? Woher kommt diese Akzeptanz, die solche Missstände in Kauf nimmt? Ist der*die Wohnungslose, dem*der Bänker*in in seinem Büro im 69. Stock nicht mehr ebenbürtig?

All das sind Fragen, die sich mir infolge von dieser doppelten Konfrontation mit diesem Thema gestellt haben und die ich gerne mit euch teilen will.

Den eigenen Standpunkt immer wieder zu hinterfragen und in dem*der Wohnungslosen oder dem*der Geflüchteten mehr zu sehen, als die auf den ersten Blick erkennbaren Lebensumstände ausmachen, ist etwas, was schon viel verändern kann.

Umso schöner ist, dass ich in einer Welt, wo mechanische Definitionen über den Sinn des Lebens auf vermehrte Zustimmung treffen, von engagierten Menschen wie Sr. Malgarete und Sr. Janice (ohne all die anderen teils ehrenamtlichen Helfer*innen zu vergessen) lernen darf, die einen Menschen nicht nach dessen Aussehen, Herkunft oder seiner angeblichen Produktivität bemessen, sondern jede*n auf gleiche Art und Weise respektieren und willkommen heißen. Nach diesem doch sehr geopolitischen Post noch etwas Schönes zum Abschluss:

Bis vor Kurzem wurde in ganz Brasilien der Geburtstag der „Nossa Senhora Aparecida“, die Schutzpatronin Brasiliens, gefeiert. Zehn Tage lang (vom 3.-13. Oktober), richtete sich der Fokus des ganzen Landes auf diese Figur von äußerst großer Bedeutung. In dem Zusammenhang zu den Feiertagen, ist vor allem die Rolle der Kinder hervorzuheben, denen hierbei die wichtigste Rolle zuteil wird. Denn sie sind es, die im Zusammenhang mit diesen Feiertagen durch besondere Aufmerksamkeiten in den Vordergrund gehoben werden. So werden die Feiertage vielerorts mit einem großen Fest für die Zukunft des Landes abgeschlossen (Festa das Crianças). Es gibt Süßes, es wird gespielt und viel gesungen und gelacht.

Brasilien macht Spaß, meine Mitmenschen sind großartig und allen, die es bis hierhin geschafft haben, wünsche ich weiterhin ein glückliches Zusammenleben.

Samuel

Bei ihnen lebt Samuel: Sr. Janice, Sr. Malgarete und Sr. Alice (v.l.)
Samuel mit Sr. Janice (l.) und Sr. Malgarete
Avenida Paulista