MaZ: Gegensätze und alles dazwischen

In einem Monat geht es für Ima zurück nach Deutschland. In ihrem Rundbrief blickt sie schon jetzt auf ihren Einsatz zurück und schreibt, was ihr in Indien besonders ans Herz gewachsen ist und wie sie die Zeit im Krankenhaus erlebt hat.

Hochzeitssaison im Oktober.

Als ich hier in Mumbai gelandet bin, war die Regenzeit noch in vollem Gange. Seitdem löst der Regenduft in mir Gefühle des Aufbruchs und des Neuanfangs aus. Irgendwann hat der Regen aber aufgehört und irgendwo zwischen dann und jetzt ist Mumbai zu meinem indischen Zuhause geworden. Jetzt bleibt nur noch knapp ein Monat bis zu meiner Rückreise. Wie schnell die Zeit vergeht. Alles entwickelt sich weiter und erste Male werden zu letzten Malen. Es ist also dringend an der Zeit, innezuhalten und auf die vergangenen Monate zurückzublicken. Dabei versuche ich jetzt mal, die rosarote Brille der Nostalgie bewusst nicht aufzusetzen, so schwer das auch manchmal fallen mag.

Aus der Aufregung der ersten Wochen wurde irgendwann Routine. Mein Tagesablauf sieht ungefähr so aus, dass ich morgens aufstehe und zum kurzen Gottesdienst im Krankenhaus gehe. Der ist freiwillig, aber ich habe in diesen 20-30 Minuten eine gute Möglichkeit gefunden, ruhig in den Tag zu starten. Nach dem Frühstück noch kurz Kittel anziehen und dann geht’s auf Station. Mit meiner Mentorin (eine Schwester, die auch gleichzeitig die Direktorin des Krankenhauses ist) habe ich abgesprochen, dass ich etwa alle vier Wochen die Station wechsle. Dadurch muss ich mich zwar jeden Monat auf ein neues Team einstellen, treffe aber so viele Leute und lerne mit jeder Station mehr. Am Anfang war ich nämlich wirklich verloren und wusste gar nicht, was zu tun ist. Mittlerweile komme ich gut zurecht und kann vieles selbstständig machen: Vitalzeichen checken und dokumentieren, Betten machen, Bestandsaufnahme der Medikamente, EKGs und allgemein Dinge, die gerade so anfallen. Obwohl die Aufgaben von Station zu Station variieren, verkürzt sich meine Einarbeitungszeit mit jedem Monat. Kurz und knapp zu erklären, wer ich bin und was ich hier eigentlich mache, fällt mir aber häufig immer noch schwer, da es Freiwilligendienste in Indien so nicht gibt. Das bietet aber Gesprächsstoff für zwischendurch. Letztendlich hat mir die Arbeit auf jeder Station Spaß gemacht, am besten haben mir aber die Notaufnahme, die Intensivstation, der Kreißsaal und die Nursery gefallen. Samstags gehe ich immer mit dem Team des Gesundheitszentrums in Slums, um dort günstige medizinische Behandlung anzubieten. Dort kann ich eher bei administrativen Aufgaben unterstützen, was für mich eine angenehme Abwechslung ist. Das Team ist wie eine kleine Familie und hat mich seit dem ersten Tag richtig lieb aufgenommen.

Nach der Arbeit habe ich entweder auf meinem Zimmer entspannt oder bin einem Hobby nachgegangen. Bis Dezember haben wir im Chor geprobt. Die Mitglieder habe ich mit der Zeit echt lieb gewonnen und ich habe es genossen, dass kaum Aufmerksamkeit darauf gezogen wurde, dass ich Deutsche bin. Der abschließende Höhepunkt waren unsere Weihnachtsaufführungen, die mir die Weihnachtszeit so richtig versüßt haben. Im Januar habe ich angefangen, den traditionellen südindischen Tanz „Bharatanatyam“ an der Tanzschule auf dem Gelände der Gemeinde zu lernen. Das Tanzen war anstrengender, als ich es mir zunächst vorgestellt hatte, aber trotzdem meistens spaßig.

Neben den Hobbies hatte ich regelmäßigen Hindiunterricht, den mir eine Schwester angeboten hat. Auch wenn ich wohl nicht die fleißigste Schülerin war, hat mir das Lernen der Sprache ganz neue Türen geöffnet. Zum einen dadurch, dass ich mit vielen Patient*innen aber auch Kolleg*innen besser kommunizieren kann. Zum anderen, da mir bestimmte sprachliche Eigenschaften dabei geholfen haben, Denkweisen der Menschen zu verstehen. Beispielsweise bedeutet „gestern“ und „morgen“ übersetzt das gleiche Wort. Meine Lieblingsphrase ist „aram se“ was so viel wie „langsam, immer mit der Ruhe“ bedeutet. Das habe ich versucht, ganz allgemein auf mein Leben anzuwenden. Einfach mal entspannt sein, wie die Kühe auf der Straße, die sich wirklich von nichts aus der Ruhe bringen lassen. Ich versuche mir also, das Mindset von Kühen anzueignen, so skurril das jetzt auch klingen mag. Allgemein habe ich gemerkt, dass ich mich persönlich unglaublich weiterentwickelt habe. Das fällt mir im Alltagstrott meist nicht so auf. Es ist vielmehr eine schleichende Veränderung, die man erst merkt, wenn man zurückblickt. Mit Situationen, die mich vor ein paar Monaten aufgeregt hätten, kann ich viel gelassener umgehen. Es kommt immer wieder vor, dass mir Menschen sagen, ich würde wie eine Puppe aussehen. Damit habe ich direkt klein und unselbstständig assoziiert. Dann habe ich allerdings verstanden, dass Inder*innen damit ausdrücken wollen, dass ich auf sie freundlich wirke und hübsch aussehe. Seitdem versuche ich, es als Kompliment aufzunehmen und das klappt auch ganz gut. Es ist eben alles eine Frage der Perspektive und die Kunst liegt darin, die eigene Perspektive zu wechseln (auch bzw. besonders wenn man davon überzeugt ist, bereits gewechselt zu haben).

Meine größte Herausforderung bestand aber in etwas anderem. Seitdem ich mich an all das, was für mich am Anfang noch so aufregend war, gewöhnt hatte und nicht jeder Tag mehr von neuen Eindrücken überflutet war, ist in mir immer wieder das Gefühl entstanden, nicht das Beste aus meiner Zeit zu machen. Dazu kommt, dass ich mich gerade in solchen Momenten oft mit anderen verglichen habe. Aber Kierkegaard (ein dänischer Philosoph) hat Recht, denn Vergleichen ist das Ende des Glücks. Letztendlich ist mein Aufenthalt hier viel mehr als nur ein riesiges Abenteuer. Es ist ein Leben und ein Alltag, die sich manchmal einfach ganz normal und unaufregend anfühlen. Und das ist auch irgendwie das Schöne daran.

Indien hat aber auch wirklich so viel zu bieten, dass man sowieso nicht alles erkunden kann. Wenn ich Indien nur mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es „Vielfalt“. Sprache, Essen, Feste, Natur und noch so viel mehr. Alles ist unglaublich vielfältig. Je nach dem, wo man sich gerade aufhält, ist man von Wüste oder Bergen, Großstadt  oder Dschungel, Hitze oder Schnee umgeben. Diese Vielfalt findet man auch in der Gesellschaft. Jeder Bundesstaat hat seine eigene Kultur. Man könnte also sagen, dass das Land Indien eigentlich den Zusammenschluss ganz vieler verschiedener Länder beschreibt. Diese Vielfalt ist aber auch zu spüren, wenn man im selben Ort bleibt. Religionen werden so offen wie möglich ausgelebt: ob hinduistische Feste wie Diwali oder Holi, christliche Feste wie Weihnachten oder Ostern aber auch muslimische Feierlichkeiten wie das Fastenbrechen. Kirchen, Moscheen und besonders Tempel findet man überall. Dazu kommt, dass Arm und Reich unmittelbar beieinander leben. So kommt es schon mal vor, dass ich auf einem Sparziergang durch die Straßen Mumbais mich plötzlich in einem Slum wiederfinde und eine Straße weiter schon wieder die Hochhäuser stehen. Diese Gegensätze und alles dazwischen bilden das, was für mich Indien ausmacht.

Auf meine Ausreise, die vor Kurzem noch so fern schien, blicke ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits freue ich mich riesig, wieder nach Deutschland zu gehen und meine Familie und Freund*innen nach so einer langen Zeit wiederzusehen. Andererseits kann ich mir noch nicht vorstellen hier wegzugehen. Neben den offensichtlichen Dingen wie den Menschen oder dem Essen werde ich auch die kleinen Dinge vermissen. Zum Beispiel wie Inder*innen die Zahl 3 mit den Fingern anzeigen (sie heben Mittel-, Ring- und kleinen Finger). Oder das Hupen der Straßen. Oder auch die plötzlichen Sommerregen, die wie jetzt die bevorstehende Regenzeit ankündigen.

Ima

Auf den Straßen Mumbais.
Bettenmachen in der Notaufnahme.
Drei Wochen hat Ima bei den Schwestern in Bangalore gearbeitet.
Holi - das Fest der Farben.
In einem der Outreach-Camps des Gesundheitszentrums.
Mumbais Darawi Slum ist der größte Asiens.
Weihnachtsaufführung mit dem Chor.