MaZ: Zwischen Festen und Alltag

„Mitleben auf Zeit“ – unter diesem Motto ist Amelie als Freiwillige in Mexiko. Nach der Sprachschule ist sie mittlerweile im Kindergarten angekommen, ihrer Einsatzstelle für das kommende Jahr. Wen und was sie bereits sehr schätzen gelernt hat, erzählt sie in ihrem Rundbrief.

Amelie trägt die canasta, so nennt man den traditionellen Korb auf den Köpfen der Frauen und Mädchen

Eineinhalb Monate ist es jetzt her, dass ich in das Flugzeug gestiegen bin, was mich einmal um die halbe Welt nach Mexiko bringen sollte. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich nach der Landung einen kurzen Moment brauchte, um zu realisieren, dass ich mich immer noch auf der Erde befinde – nach 22 Stunden Reisezeit, die sich angefühlt haben, als würde ich zwischen Zeit und Raum schweben.

Ziemlich müde, aber viel zu aufgeregt, um zu schlafen, wurde ich am Flughafen Mexiko-Stadt von den Schwestern herzlich abgeholt, um zwei Nächte im Provinzhaus zu bleiben. Dort konnte ich das erste bisschen mexikanische Kultur schnuppern, wir haben einen Ausflug zur Basilica de Guadaloupe gemacht und den Palacio Gobierno, den Regierungspalast, angeschaut. Abends ging es zum Busbahnhof: Dort startete die sechsstündige Busfahrt nach Oaxaca de Júarez zu meiner Einsatzstelle. Nachdem die gröbsten organisatorischen Angelegenheiten geregelt waren, fand ich mich am nächsten Morgen an der Hauptstraße wieder, um ein taxi colectivo, das beliebteste öffentliche Verkehrsmittel für Kurzstrecken, abzupassen, was mich die ersten drei Wochen zur Sprachschule bringen würde. Die Schule stellte sich als sehr angenehmer Start heraus, vor allem weil das Arbeitsklima zwischen Maestra und Estudiante so ungezwungen war – mir wurden nicht nur Fragen zu Grammatik und Vokabeln beantwortet, sondern auch kulinarische Tipps gegeben und bei technischen Problemen geholfen. Danach blieb mir immer noch etwas Zeit, in der Stadt herumzuschlendern, um etwas von der Kultur aufzusaugen. Nicht nur einmal habe ich mir dabei eine Concha, ein mexikanisches Hefegebäck mit Mürbeteig überzogen, gekauft.

Trotzdem habe ich mich gefreut, als im September die Arbeit im Kindergarten startete und ich meinen Alltag für das kommende Jahr kennenlernte. Die Offenheit und Neugier der Kinder machten es mir leicht, an der Arbeit Spaß zu haben, genauso dass sie auch der neuen Maestra Respekt entgegenbringen können und mehr und mehr meine Einschätzung einfordern.

Was ich auch genieße, ist die freundschaftliche Atmosphäre im Kollegium – hier wird, ohne zu murren unterstützt, wo es gerade gefordert ist, und man spürt, dass allen das Wohl der Kinder am Herzen liegt. Daher freue ich mich schon sehr auf das kommende Wochenende, an dem alle Beschäftigten nach Mexiko-Stadt fahren werden, um gemeinsam la ciudad de México (auch einfach nur México genannt) zu entdecken. Für uns alle ist das eine große Chance, uns untereinander besser kennenzulernen – auch außerhalb der Arbeit. Ich weiß mich glücklich zu schätzen, dass ich Teil dieser Gemeinschaft werden darf, bei der Teambildung so großgeschrieben wird und die über viel Engagement verfügt. Finanziell unterstützen uns dabei die Einnahmen aus der kleinen tienda, einem Geschäft, das die Maestras aufgebaut haben: Während die Kinder abgeholt werden, verkaufen wir Süßigkeiten zum kleinen Preis. Da für den Großteil der Bevölkerung die Möglichkeiten begrenzt sind, eine Reise in die Hauptstadt zu unternehmen, freut es mich sehr, dass die Maestras sich das selbst ermöglichen.

Erste Einblicke in die mexikanischen Feierlichkeiten konnte ich auch schon erlangen: Bei der calenda, einem Umzug, der durch die Straßen des Dorfes den Beginn eines Festes bekanntgibt, durfte ich sogar selbst einmal die canasta tragen, so nennt man den Korb auf den Köpfen der Frauen und Mädchen. Traditionell ist er mit Blumen geschmückt und mit Süßigkeiten oder Feuerwerkskörpern gefüllt. Auf diese Weise konnte ich erleben, wie unsere fiesta patronal zu Ehren des Dorfpatrons San Agustín de las Juntas eingeläutet wurde.

Auch den Día de la Independencia, den Tag der Unabhängigkeit Mexikos, habe ich miterlebt und mitgefeiert. Eingeläutet wird er in der Nacht auf den 16. September mit dem grito de dolores, dem Schrei des Schmerzes, der die Kämpfe entfachte, die zur Unabhängigkeit führten. Dieser grito, ursprünglich von Miguel Idalgo im Jahre 1810 ausgerufen, wird vom Präsidenten des Dorfes, der Stadt und des Landes nachgespielt. Ich konnte ihn gleich zweimal erleben, da wir die Feierlichkeiten auch im Kindergarten abgehalten haben. Dazu kamen sowohl Kinder als auch Maestras in traditioneller Kleidung, eine Delegation (bestehend aus fünf sehr stolzen Kindern) für die honores banderas, die Ehrung der Fahne, wurde bestimmt und ein Junge (mit besonders durchdringender Stimme) als Miguel Hidalgo verkleidet. In etwas offiziellerer und geordneterer Form wurden die Feierlichkeiten abends auf dem Dorfplatz abgehalten. Zudem wurde die zehnminütige Version der mexikanischen Nationalhymne von fünf americanas, Frauen in Kleidern der Nationalfarben grün, weiß und rot, vorgetragen. Beim dreifachen Schrei ¡VIVA MÉXICO! der gesamten Menge bekam auch ich als Nicht-Mexikanerin Gänsehaut, weil der Stolz auf die Unabhängigkeit und die Geschichte Mexikos buchstäblich in der Luft lag.

Sehr dankbar bin ich für die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft der Mexikaner*innen, die mir hilft, mich hier willkommen zu fühlen, ein Netz aus Bekanntschaften zu knüpfen und dabei die Kultur zu entdecken. Mit der Nachbarin aus dem Geschäft gegenüber habe ich schon einige typische Gerichte und Snacks ausprobiert – positiv überrascht wurde ich von den mit Chili und Zitrone gewürzten chapulines (ja, das sind wirklich Grashüpfer). Auch von den elotes, Maiskolben bestrichen mit Mayonnaise, Käse und optional Salsa, bin ich Fan geworden und mir wurde gezeigt, wie man pan de elote, einen Maiskuchen, backt.

Auch eine waschechte fiesta habe ich durch Zufall erlebt: Eines Abends bin ich auf dem Nachhauseweg einem Jungen begegnet, der vor einer Tür stand, aus der die gesamte Straße hinunter Musik schallte. Ein kurzes „Wie geht‘s?“, gefolgt von einem „Wie heißt du?“ und einem „Was macht ihr dort?“ – und ich wurde hineingebeten. Drinnen war die Musik noch ein wenig lauter, die Stimmung ausgelassen. Ich wurde sogleich seiner Familie und Freund*innen vorgestellt, und auch wenn mein Spanisch noch längst nicht perfekt ist, habe ich einige schöne Unterhaltungen führen können (zumindest als die Band ihre Pause gemacht hat). Als sie keine Pause gemacht hat, habe ich mich im Tanz ausprobiert und mich nicht davon abhalten lassen, dass der Rhythmus doch irgendwie anders war als gewohnt.

Solche herzlichen Begegnungen mit fremden Menschen sind in den ersten Wochen wirklich Goldwert, um sich auf das kommende Jahr zu freuen, und im besten Fall zu beobachten, wie aus Fremden Freund*innen werden können. Denn trotz allem, was ich schon erleben durfte, habe ich das Gefühl, gerade erst an der Oberfläche dieses Landes, seiner Kultur und seinen Bewohner*innen zu kratzen. Und hinter jeder Tür, die sich mir öffnet, kann ich so viele mehr entdecken.

Amelie

Auf der Fiesta
Die leckeren Conchas
Bei den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag
In Mexiko-Stadt mit den Steyler Schwestern