MaZ: Gleiches Alter, unterschiedliche Lebenswelten

Da die Fundación, in der Johanna ihren MaZ-Einsatz verbringt, bis Mitte Januar geschlossen hatte, nutze sie die Möglichkeit, um Boliviens Vielfalt noch besser kennenzulernen. Was sie erlebte und wie es im März in der Fundación weiterging, schreibt sie in ihrem Rundbrief.

Johanna mit ihrem Bruder auf dem Gipfel vom Huayna Potosi

Mit zwei weiteren Freiwilligen besuchte ich als erstes La Paz, Boliviens Regierungssitz, und den nahe gelegenen Titicacasee. Für mich ist La Paz, neben Cochabamba, meine Lieblingsstadt in Bolivien geworden. Die Stadt wurde mitten in den Anden und auf der Hochebene errichtet und es gibt kaum eine Gasse, die eben verläuft. Zudem werden in der Stadt Gondeln als alltägliches Verkehrsmittel benutzt und man hat von dort aus einen herrlichen Blick auf zwei imposante Berge Boliviens, den Illimani und den Huayna Potosí. Auch leben viele der Einwohner von La Paz sehr traditionell und man kann die Kultur Boliviens dort noch besser kennenlernen. All das macht La Paz für mich zu einer besonders attraktiven Stadt.

Von La Paz aus sind wir die berühmte Todesstraße mit dem Fahrrad heruntergefahren, welche heute aber nicht mehr so gefährlich ist wie früher, da sie hauptsächlich von Tourist*innen mit dem Rad befahren wird. Die Straße führt von einer Höhe von über 4000 Höhenmetern durch die Yungas auf etwa 1500 Höhenmetern hinab. Innerhalb von vier Stunden sind wir von dem kalten und windigen Hochland im tropischen Tiefland gelandet. Es war sehr beeindruckend in so kurzer Zeit so verschiedene Klimazonen zu sehen und zu merken, wie sich die Natur- und Pflanzenwelt dabei verändert, immer angepasst an das Klima.

Zudem waren wir drei zwei Tage in Copacabana, einer Wallfahrtsstadt, die direkt am Titicacasee liegt. Dieser See ist der höchstgelegene, schiffbarer See der Welt und gehört zum einen Teil Bolivien und zum anderen Teil Peru.

Nach La Paz reiste ich weiter nach Tarija, in den Süden Boliviens. Diese Gegend ist besonders bekannt für ihren Wein und das milde Klima. Nach drei Tagen dort ging es für mich dann auch schon weiter nach Monteagudo, wo ich einen ehemaligen Studienkollegen und Freund meines Papas getroffen habe. Er wurde in Bolivien zum Priester geweiht und lebt und arbeitet seitdem dort. Monteagudo ist im Gegensatz zu allen anderen Orten, die ich zuvor von Bolivien kennengelernt habe, sehr tropisch. So gab es im Pfarrgarten Mango-, Avocado-, Limonenbäume und vieles mehr. Es war wie im Paradies.

Wieder einmal habe ich gemerkt, wie wahnsinnig vielfältig und reich an Kultur und Natur das Land ist. Nach diesen zwei wunderschönen Wochen, in denen ich unterwegs war, freute ich mich dann aber doch auch wieder auf mein Zuhause in Cochabamba und auf die Arbeit dort.

Ende Januar haben wir auch wieder das „Red de Amigos” (=Freundschaftsnetz) aufgenommen, das aufgrund der Pandemie leider pausieren musste. Dies ist ein weiteres kleines Projekt, welches durch kleine Spendenbeiträge dazu beiträgt, die finanziellen Mittel der Fundación zu erhöhen. Daran beteiligt sind ausschließlich Einwohner*innen Cochabambas, sowie Bekannte und Freund*innen der Fundación. Diese spenden einmal im Monat, einen von ihnen gewählten Betrag und unterstützen somit die Projekte der Fundación.

Meine Aufgabe ist es die Personen einmal monatlich zu besuchen, die Spende abzuholen, einen Beleg auszustellen und auch nachzufragen, ob wir im Gegenzug etwas (nichts was mit Kosten verbunden ist) für sie tun können. Ich mag diese Arbeit meist sehr gerne, da sie etwas Abwechslung an den Bürotagen bringt und ich so schon viele nette Leute kennengelernt habe.

Anfang März kamen meine Kolleg*innen wieder, darüber freute ich mich besonders, da unser Team vergrößert wurde. Insgesamt arbeiten jetzt vier Festangestellte, zwei Praktikantinnen der Sozialen Arbeit der Uni Cochabamba und eine Praktikantin aus Frankreich in dem Projekt Coyera-Wiñana.

Anfangs standen die Jahresplanung und die Planung der Einsetzung der Gelder, die wir zu Verfügung haben, an. Mitte März haben wir dann auch wieder mit der Arbeit auf der Straße angefangen. Inzwischen haben wir wieder einigermaßen regelmäßig Aktionen und Aktivitäten mit unseren Gruppen und ich habe viele weitere Personen, mit denen wir arbeiten, kennengelernt.

Da das Projekt wieder etwas mehr finanzielle Mittel hat, ist es uns auch möglich größere Aktivitäten durchzuführen. So haben wir zum Beispiel mit einer Gruppe einen Ausflug in ein Schwimmbad gemacht, sind zum Cristo gefahren, zur nahegelegenen Lagune „Angostura“ und haben ein kleines Fußballturnier zwischen zwei Gruppen organisiert.

Auch ich darf seit kurzer Zeit jetzt selbstständig Aktivitäten durchführen. Vor dem ersten Mal war ich etwas aufgeregt, da ich natürlich alles auf Spanisch erklären muss. Zudem wusste ich nicht wie die Gruppe darauf reagieren würde, dass ich die Aktivität durchführe. Es hat jedoch sehr gut geklappt und ich hatte richtigen Spaß dabei! So konnte ich auch schon weitere Aktivitäten und Dynamiken zu den Themen Kinderarbeit, Hygiene und physische Gewalt erstellen und durchführen.

Ich bin wirklich sehr froh, dass sich mein Spanisch verbessert hat, da ich mich mit den Menschen nun meist sehr gut unterhalten kann und dadurch sie selbst, ihre (Lebens-)Geschichte und ihren Charakter immer besser kennenlerne.

Eine unserer „Usuarias” ist erst 17 Jahre alt und schon zweifache Mutter. Ihr erstes Kind hat sie mit gerade einmal 13 Jahren bekommen. Angefangen hat alles, als ihre Mutter aufgrund von illegalen Drogenverkaufs inhaftiert wurde. Kurze Zeit darauf später starb ihr Vater und so blieben sie und ihre Geschwister allein zurück. Ihre größeren Geschwister hatte schon nicht mehr viel Kontakt zur Familie und so hat sie sich um ihre zwei jüngeren Brüder sowie ihren bald frischgeborenen Sohn gekümmert. Um sie über Wasser zu halten, ist sie nicht mehr zur Schule gegangen und hat stattdessen angefangen auf der Straße Süßigkeiten zu verkaufen.

So hat sie auch eine der Gruppen und ihren jetzigen Partner und Vater ihres zweiten Sohnes kennengelernt. Zum Glück hat sie sich nie dazu reizen lassen, die Drogen auszuprobieren und zu konsumieren und ist sehr reflektiert und achtet auf sich selbst.

Trotzdem arbeitet sie jeden Tag auf der Straße, um das nötige Geld für die Miete (ein Zimmer mit nur einer Matratze für vier Personen) und das Essen zu verdienen. Auch wenn diese Familie schon ein Zimmer in Miete hat, gibt es noch viel Arbeit. So haben wir ihnen zum Beispiel vor Kurzem einen Gaskocher geschenkt, damit sie selbst kochen können und letzte Woche konnten wir ihnen ein Bettgestell für ihre Matratze zur Verfügung stellen.

Die nächsten Aufgaben liegen darin, für den Mann eine feste Arbeitsstelle zu finden, damit er nicht mehr in der Gruppe arbeitet, in der die anderen Personen Drogen konsumieren. Er selbst konsumiert gerade nicht, da er aber schon mal abhängig war, besteht die hohe Gefahr, dass er rückfällig wird.

Diese Familie ist gerade dabei von dem Projekt Coyera in Wiñana überzugehen und für mich ist es spannend und schön, dies mitzuerleben. Ich hoffe, dass der Wille der beiden stark genug ist und sie ein Leben führen können, wie sie es sich wünschen. Doch beide sind wirklich starke Persönlichkeiten und besonders bei der jungen Frau bin ich jedes Mal verblüfft, wenn ich mich wieder daran erinnere, dass sie erst 17 Jahre alt ist. Sie wirkt schon so viel älter und reifer.

Eine weitere junge Frau, 20 Jahre, gehört inzwischen eigentlich schon zum Projekt Wiñana (Wiedereingliederungsprojekt). Sie hat mit ihrem Partner und dem gemeinsamen dreijährigen Sohn die Straße vor etwa ein bis zwei Jahren verlassen. Doch vor Kurzem ist die Frau schwer krank geworden und lag im Krankenhaus im Koma.

Nun geht es ihr wieder gut, jedoch sind die Krankenhausrechnungen, die sie erhalten haben, sehr hoch. Deshalb hat die junge Mutter angefangen Drogen zu verkaufen. Da sie selbst auf der Straße gelebt hat, weiß sie sehr gut, wo sie die Drogen verkaufen kann, und kennt auch die Menschen dort schon. Das heißt aber auch, dass die Gefahr jetzt besteht, dass die Polizei sie erwischt und sie inhaftiert wird und dass sie wieder vermehrt Zeit mit den Personen auf der Straße verbringt und ein Rückfall zum Konsum sehr wahrscheinlich ist.

Ich könnte noch viele weitere Lebensgeschichten erzählen, da jede*r Einzelne eine so andere und individuelle Geschichte hat. So gibt es Personen in allen Altersgruppen, manche leben schon seit 20 Jahren auf der Straße, andere erst seit Kurzem. Einige sind schon so lange abhängig, dass sie gar nicht mehr darüber nachdenken, ihren Konsum zu verringern, andere zeigen großen Willen, …

Insbesondere bei den Personen, mit denen wir arbeiten und die in etwa meinem Alter sind, fällt mir immer wieder auf, wie verschieden unserer Leben und unser Alltag doch ist.

Ich bin sehr dankbar, dass ich in keine problematische Familie hineingeboren wurde, meine Eltern gut mit mir umgegangen sind bzw. mit mir umgehen und ich somit nie ernsthaft darüber nachdenken musste, von zuhause, den Problemen und der Gewalt abzuhauen.

Manchmal ist es für mich auch schwer zu sehen, dass wir die Probleme der Menschen nicht sofort lösen können. Zum Beispiel wenn der Auslöser „nur“ Geldprobleme sind und noch schwieriger und langwieriger ist es dann, wenn dazu auch noch psychische und Suchtprobleme hinzukommen, was meistens der Fall ist.

Mir gefällt die Arbeit jedoch sehr gut und ich bin froh, die Erfahrungen machen zu können, mich mit den Menschen auszutauschen und auch von ihnen viel zu lernen.

Noch bevor das Projekt Coyera-Wiñana wieder gestartet hat, war unser Zwischenseminar. Dafür sind wir (Sarah und ich) mit dem Bus nach Argentinien gefahren. Das Seminar war sehr bereichernd und ich konnte viel für die zweite Hälfte meines MaZ-Jahres mitnehmen.

Es war sehr wertvoll sich mit den anderen auszutauschen, die in etwa das Gleiche gerade erleben und erfahren und es war sehr schön sowohl bekannte Gesichter wiederzusehen als auch neue Freiwillige kennenzulernen.

Über die Osterferien kam meine Familie zu Besuch. Ich habe mich sehr gefreut sie alle nach sieben Monaten wiederzusehen. Wir haben gemeinsam etwas Bolivien bereist und auch ich habe neue Orte kennengelernt. In La Paz haben mein Bruder und ich gemeinsam den Huayna Potosí (6088hm) bestiegen. Das war für mich ein ganz besonderes Erlebnis, da ich total gerne bergsteigen gehe, es in diesen Höhen aber nochmal eine ganz andere, neue Herausforderung ist. Es fasziniert mich, wie sich der Körper an die Höhe, an die Gegebenheiten anpasst und was man alles schaffen kann.

Ich denke, auch im MaZ-Jahr habe ich bisher gelernt mich der Kultur und dem Umfeld hier anzupassen aber auch sehr viel über mich selbst kennengelernt. Man kann das auch etwas mit dem Bergsteigen und der körperlichen Anpassung aber auch dem Kennenlernen seiner eigenen Grenzen vergleichen.

Besonders schön fand ich die gemeinsame Zeit mit meiner Familie in Cochabamba, da ich ihnen zeigen konnte, wie und wo ich wohne. Sie haben mein Umfeld besser kennengelernt und sogar meine Arbeitskolleg*innen und meine Gastfamilie getroffen. Sie haben sich riesig gefreut, meine Familie kennenzulernen und es wurde immer gerne ein Scherz über Ihre Größe gemacht.

Jetzt kann meine Familie, wenn wir mal wieder miteinander telefonieren, meine Erzählungen besser nachvollziehen und hat auch schon ein Bild vor Augen. Durch den Besuch meiner Familie habe ich auch gemerkt, wie sehr ich hier in Bolivien schon angekommen bin und auch wie selbstverständlich für mich viele kulturelle Gegebenheiten geworden sind, die für meine Familie immer noch ganz neu waren und die sie erst einmal lernen mussten. Auch schätze ich mein Umfeld nochmals mehr wert, da ich gemerkt habe, wie wichtig mir zum Beispiel meine Arbeitskolleg*innen, meine Gastfamilie, die Leute aus der Tanzgruppe und sogar die Ladenbesitzer unseres Stammladens geworden sind und wie wenig Zeit mir hier nur noch bleibt, die Gegenwart dieser Personen zu genießen.

So ist auch schon der Mai gekommen und ich bin gespannt, welche Erfahrungen ich in meinen letzten Monaten hier noch sammeln kann und was ich noch dazulerne.

 

Liebe Grüße

Johanna

 

Ausblick von La Paz von der Gondel aus
Baden in der Lagune Angostura
Eine Anlaufstelle für die Menschen auf der Straße
Arbeitsgruppe zum Thema körperliche Gewalt
Aktivität zur Geschlechterrolle
Konzentrationsspiele in der Gruppe
Johanna mit ihrer Familie und ihren Arbeitskolleg*innen
Besuch in der Gastfamilie, wo Johanna nach ihrer Ankunft lebte
Mit der Familie beim Christo