MaZ: Ein Rund-um-die-Uhr-Job

Seit circa drei Monaten bin ich jetzt in Cochabamba und habe mich schon sehr gut eingelebt. Die ersten drei Wochen habe ich eine Sprachschule besucht und in einer Gastfamilie gewohnt. Das war eine richtig schöne Erfahrung in einer Großfamilie mit vielen Kindern und Tieren mitleben zu dürfen.

Die Familie hat mich sehr herzlich aufgenommen und mich in allen Bereichen ihres Lebens miteinbezogen. So durfte ich schon in den ersten Wochen viele bolivianische Gerichte kennenlernen, habe gelernt, wie man auf den Märkten einkauft (die Märkte sind hier sehr beeindruckend z.B. gibt es hier mehr als 30 Kartoffelsorten), und auf Familienfesten durfte ich lernen wie man traditionell den "Cueca" tanzt. Außerdem konnte ich in der Sprachschule nette Kontakte zu anderen Freiwilligen aufbauen, die in unterschiedlichen Projekten in Bolivien arbeiten.

Nach der Sprachschule habe ich dann ins Barrio (Außenbezirk) an meine Einsatzstelle gewechselt. Das war erst mal eine große Umstellung. Auch mein Spanisch brauchte noch viel Übung und im Barrio gibt es wirklich niemanden mehr, mit dem man sich auf Englisch unterhalten könnte. Auch jetzt noch ist die Sprache ab und zu eine Herausforderung, aber jeden Tag wird es besser.
Hier wohne ich mit drei Schwestern (Steyler Missionsschwestern) mitten in einem Stadtteil am Rand von Cochabamba (circa eine Stunde von der Stadtmitte entfernt). Die Bedingungen sind sehr einfach, aber mittlerweile habe ich mich gut daran gewöhnt z.B. an das Zähneputzen mit Stirnlampe, das Duschen mit einem Kanister Wasser, Wäschewaschen von Hand, Müllverbrennen und Outdoorklo.
Es ist ein bisschen "Hüttenfeeling", so kann man sich das vorstellen.

Die Familien hier im Barrio sind Migranten vom "Campo" (vom Land). In der Regel wohnt eine Familie in ein bis zwei Zimmern und das mit sehr vielen Kindern. Die meisten Familien haben zwischen vier und sechs Kinder - viele auch mehr.
Die Eltern arbeiten häufig als Verkäufer auf den Märkten und kommen erst spätnachts zurück. Deshalb sind die meisten der Kinder im Barrio tagsüber auf sich allein gestellt. Einige der größeren Kinder müssen auch arbeiten und verkaufen in der Stadt Obst oder Süßigkeiten oder waschen Autos.
Kinderarbeit ist in Bolivien tatsächlich erlaubt ab zehn Jahren. Das klingt für uns sehr hart, aber ich habe tatsächlich einige Familien kennengelernt, die nicht anders auskommen würden, als wenn die älteren Kinder zum Familieneinkommen beitragen.
Viele der Familien haben als Muttersprache Quechua oder Aymara und tragen die Tracht vom Land mit langen geflochtenen Zöpfen, Strohhut (den braucht man auch, da die Sonne auf ca. 3000 m sehr stark ist), Rock und Tragetuch fuer Babys und Lebensmittel.

Für mich ist es wirklich eine sehr prägende Erfahrung hier mitzuleben und mitzuarbeiten. Vor allem da die Schwestern großen Wert darauf legen, nah bei den Menschen zu sein und so zu leben wie die Familien vor Ort.
Beeindruckend ist auch, wie die Menschen es schaffen, komplett ohne fließend Wasser auszukommen. Zweimal pro Woche kommt der Lastwagen mit Wasser zum Kaufen. Das Wasser ist allerdings für die meisten Familien teuer und nicht jeder kann sich genug Wasser leisten. Viele waschen z.B. ihre Wäsche am nahegelegenen Fluss oder sammeln das Regenwasser.
Auch die Schwestern haben mehrere Wassertanks im Garten, in denen wir das Regenwasser sammeln - das ist sehr wichtig. Ich bin schon gespannt, wie es in der Trockenzeit wird, die bald kommt (Mai bis Oktober). Denn in den letzten Wochen hat es nicht genug geregnet und der Fluss wird bald ausgetrocknet sein.
Hier wird mir deshalb jeden Tag bewusst, wie kostbar Wasser ist und wie ungerecht es ist, dass gerade die Menschen unter dem Klimawandel leiden, die eigentlich sehr wenig zu dieser Entwicklung beigetragen haben.

Die Familien, die ich hier kennengelernt habe, sind wirklich sehr gastfreundlich und alles wird geteilt, wenn man zu Besuch ist. Besonders freuen sich die Frauen, wenn man etwas von ihnen lernen will. So habe ich in den letzten Wochen hier Stricken gelernt - eine Sache, welche die Frauen hier richtig gut können. Unglaublich, wie sehr sich die Frauen freuen, wenn ich mein Strickwerk auspacke.
Die Schwestern meinten, es sei sehr wichtig, wertzuschätzen, was die Frauen gut können, da sie oft wenig Selbstbewusstsein haben und nur wenige Jahre die Schule besucht haben. Auch ist das Problem "Machismo" (etwa Vorherrschaft des Männlichen) hier ziemlich verbreitet und mehrere Frauen leiden unter häuslicher Gewalt oder Alkoholproblemen ihrer Männer.

Einige Abenteuer habe ich hier im Barrio mit den Straßenhunden und den Hunden der Familien gemacht. Leider gibt es im Barrio abends und nachts Probleme mit Kriminalität und die Familien halten sich aggressive Hunde, um ihre Häuser zu schützen. Denen läuft man besser nicht über den Weg und tatsächlich kommen immer wieder Kinder mit Bissverletzungen in unseren Hort.
Spannend ist auch zu erleben, wie das Leben im Barrio basisdemotkratisch organisiert ist. Bei der monatlichen "Reunión" kommt das ganze Barrio zusammen. Es gibt einen gewählten Wortführer und einen Schiedsrichter, der hilft, Konflikte zu lösen.
So eine Reunion kann schon mal fünf bis sechs Stunden dauern und es hat mich sehr beeindruckt, wie sich alle einbringen und mit wie viel Geduld die Angelegenheiten des Stadtteils diskutiert werden.

Für mich ist es auch eine interessante und bereichernde Erfahrung, mit den Schwestern mitleben und mitbeten zu dürfen. Durch das tägliche gemeinsame Gebet und die Glaubenskraft, die ich bei den Schwestern spüre, merke ich, wie ich auch in meinem Glauben wachse.
Hier in Bolivien erlebe ich eine sehr lebendige, fröhliche, emanzipierte und menschennahe Kirche. Das beeindruckt und bereichert mich sehr. Viel zu meinem positiven Bild tragen auch die Schwestern bei - drei starke Frauen - die hier im Barrio Seelsorgerinnen, Katechetinnen und Krankenschwestern sind.
Eine der Schwestern meinte vor Ostern zu mir, dass für sie Kirche "das Leben teilen" ist. Jesus sei auch direkt bei den Menschen gewesen, bei den Armen und Kranken und beim gemeinsamen Essen. So erlebe ich das hier - das Glauben und Leben sehr viel enger miteinander verbunden sind. Und natürlich sind die Schwestern Fans von Papst Franziskus - klar weil er Südamerikaner ist - aber auch, weil er genau diesen Ansatz vertritt.

Da es keinen Arzt im Barrio gibt, kommen täglich Kinder und Erwachsene mit Schmerzen oder gesundheitlichen Problemem zu uns.
Gestern erst kam ein Kind mit Zahnschmerzen in der Nacht. Die Patienten werden dann mit Medikamenten aus der hauseigenen Apotheke versorgt. Die Schwestern wissen sehr viel über Naturheilkunde und stellen auch selber Medikamente her und wir haben viele Heilpflanzen im Garten. Beim Kräuterschneiden, -waschen und -trocknen kann ich deshalb auch ganz viel lernen.
Da es auch keinen Priester im Barrio gibt, werden die Schwestern geholt, falls jemand stirbt oder in Not ist, und machen die Vorbereitung auf Taufe, Kommunion und Firmung.
Es ist also wirklich ein "Rund-um-die-Uhr-Job", den die Schwestern haben.

Meine Aufgaben sind hauptsächlich im täglichen "Apoyo escolar" (Schülerhort). Täglich kommen um die 40 Kinder zum Hausaufgabenmachen und Lernen. Das ist eine richtige Herausforderung, alle unter einen Hut zu bringen.
Außerdem bin ich in den Kursen für Frauen dabei (Nähkurse, Strickkurse, Backkurse u.a.). Wir haben auch eine Jugendgruppe, in der wir singen und Gruppenspiele spielen. Da es im Barrio wenig Aktivitäten für Jugendliche gibt, kommen die Jugendlichen richtig gerne und das Haus ist voll. Samstags bieten wir außerdem eine Gitarrengruppe an, in der es mir richtig Spaß macht, dabei zu sein.

Es gibt viele Dinge und vor allem Menschen, die ich in Deutschland vermisse, und gleichzeitig merke ich, was es für ein Geschenk es ist, diese Erfahrung hier machen zu dürfen.

- Anna