MaZ: Vom Campo-Ausflug und vom Fest der Barmherzigkeit

Ich bin in meiner Endphase meines Bolivien-Einsatzes angekommen und die Heimreise im August rückt immer näher.

Seit meinem letzten Rundbrief ist sehr viel passiert und ich durfte viele prägende Erfahrungen machen. Meine Hauptarbeit im "Apoyo escolar" (Schülerhort) ist sehr spannend und macht mir großen Spaß.
Immer mehr habe ich mich in die Lernmethoden und kulturellen Unterschiede eingefunden. Auch durch mein besseres Spanisch kann ich jetzt den Kindern viel besser bei ihren Hausaufgaben helfen und immer öfters wurde ich von Jugendlichen um Nachhilfe gebeten.
Auch wenn es eine sehr große Gruppe ist (pro Tag ca. 40 Kinder), kenne ich die SchülerInnen immer besser, weiß, wo ihre Stärken und Schwächen sind, und die Beziehung zu ihnen bereichert mich sehr.

Auch, wenn es natürlich wie überall Streit und Machtkämpfe gibt, erlebe ich die Kinder als unglaublich dankbar, verantwortungsbewusst und sozial. Schon früh sind sie gewöhnt, in der Familie Aufgaben zu übernehmen, mitzuhelfen oder auf die jüngeren Geschwister aufzupassen.
Umso mehr genießen sie es, im Apoyo auch einfach mal Kind sein zu dürfen und ich freue mich mit, wenn sie in unserem Garten mit den Murmeln spielen oder sich über die Milch mit Reis freuen, die wir nach den Hausaufgaben ausschenken.

Auch habe mich schon sehr an das Rufen der Kinder gewöhnt. Wenn ich vorbei komme, kommt von den Kindern meistens ein freudiges "hola hermanita Anna" - was so viel heißt wie "Hallo Schwester Anna".
Immer wieder löst das ein Gefühl des Zuhauseseins in mir aus.

Seit April gebe ich einer Gruppe von acht Jugendlichen Englischunterricht. Die Jugendlichen sind total motiviert und wissbegierig, allerdings ist das Niveau sehr niedrig und die Schritte in Aussprache und Wortschatz demnach sehr klein. Ich bin trotzdem geduldig und zuversichtlich, dass wir bis zu meiner Abreise eine kleine Unterhaltung in Englisch schaffen.
Besonders schön war zudem, dass ich innerhalb der Gruppe viel über die Jugendlichen, ihre Denk- und Lernweise erfahren konnte und meine Beziehung zu ihnen vertiefen konnte.

Das letzte Mal hatte ich geschrieben, wie ich immer mehr in das religiöse Leben der Schwestern und in die lebendige und menschennahe Kirche hier hineinwachse.
Auch hier durfte ich ein paar sehr bereichernde Erfahrungen machen. Zum Beispiel hatten die Schwestern in der Erstkommunionvorbereitung das Thema "der gute Hirte" und wir haben dazu einen Gottesdienst gefeiert, in dem die Kinder ihre echten Schafe von zuhause mitbringen durften. Danach sollte die Bibelstelle sozusagen "live" und mit lebenden Schafen nachgespielt werden.
Für die Kinder war das Bild des guten Hirten sehr nahe, da die meisten auf ihrem Campo (Einödhof auf dem Land) Schafe oder Lamas hüten oder sich ein paar Schafe in unserem Barrio halten.

An Pfingsten haben wir mit unserer Jugendgruppe ein Fest gefeiert, das zunächst mit einem Gebet losging. Danach hat Pater Gustavo (ein junger Priester aus der Stadt) einen Workshop zum Thema Hl. Geist mit den Jugendlichen gemacht. Und anschließend wurde ausgelassen, traditionell getanzt. Es war ein richtiges Pfingsterlebnis mit den ca. 40 Jugendlichen zu tanzen und zu feiern.

Das nächste große Ereignis ist eine Idee meiner Schwestern und ich hoffe so sehr, ich darf sie noch miterleben vor meiner Abreise.
Da dieses Jahr das vom Papst ausgerufene "Jahr der Barmherzigkeit" ist, haben die Schwestern auch verstärkt hier im Barrio die Kranken, Bedürftigen und die Menschen mit Behinderung besucht und verstärkt auf die geachtet, die besonders der Fürsorge und Hilfe bedürfen.
Geplant ist nun ein großes "Fest der Barmherzigkeit", wo alle im Barrio eingeladen sind - besonders aber die, die einsam sind, Familien mit einem behinderten Kind, Alte und Kranke. Die Jugendgruppe wird helfen einzuladen und das Fest vorzubereiten.

Ich finde die Idee einfach großartig. Vor allem weil mich eine Familie hier im Barrio sehr angerührt hat. Nicht weit von uns wohnt eine Mutter mit ihrem 8-jährigen Sohn, der geistig und körperlich behindert ist und nicht laufen kann.
Die Wege hier sind leider nicht rollstuhlgeeignet (wir sind weit oben auf dem Berg und die Straßen sind nicht geteert). Deshalb trägt die Mutter ihren Sohn auf dem Rücken "huckepack", wenn sie aus dem Haus gehen.
Diese Situation hat mir gezeigt, was es heißen kann für manche Familien ein Kind mit Behinderung zu haben und vor welche Herausforderungen sie gestellt sind.

Neben der Arbeit waren die prägensten Ereignisse, wenn ich mich ganz nah zu den Familien gefühlt habe. Dazu gehörte ein Picknick am Fluss mit den Nachbarskindern:
Jeder hatte etwas zu essen mitgebracht zum Teilen und danach wurde im Fluss gebadet und die Wäsche gewaschen. Ein weiteres Highlight war der Besuch eines neugeborenen Babys, zu dem mich die Schwestern mitgenommen hatten. Es war das sechste Kind in der Familie und die Schwestern durften den Namen aussuchen. Danach haben wir alle das Baby gesegnet.

Von einem ganz besonderen Erlebnis, das ich sicher mein Leben nicht vergessen werde, möchte ich euch jetzt zum Schluss noch erzählen. Ich wurde von einer Familie unseres Barrios eingeladen eine Woche ihren Campo zu besuchen. Die Jugendliche der Familie besucht unseren Apoyo, die Jugendgruppe und meinen Englischkurs und wollte mir gerne ihr Zuhause zeigen, wo sie sieben Jahre lang aufgewachsen ist und mich zu einem Fest dorthin mitnehmen.
Mit dem Lastwagen auf der Ladefläche sind wir nachts in bitterer Kälte, zwischen Kartoffeln und Hühnern auf ca. 4.000 m. Höhe in ihr Dorf gefahren. Weit und breit nicht viel - ein paar Kartoffelfelder, Lamas, Schafe und dann das Dorf, in dem noch vier Familien wohnen.

Geschlafen wurde auf einer Decke auf dem Boden (zu viert) und das Wasser reichte gerade zum Kochen. Es gab weder Toilette, geschweige denn eine Gelegenheit zu duschen. Gleich am ersten Tag wurde ein Schaf geschlachtet und ich (als besonderer Gast) sollte die Kehle durchschneiden. Ihr könnt euch vorstellen - das habe ich dann doch nicht fertig gebracht.
Was mich sehr erstaunt hat, war, dass das Schaf trächtig war. Der Schaffötus wird nämlich getrocknet und anschließend an die Heiler in den Anden verkauft, die ihn für ihre Rituale benutzen.
Und dann gab es die ganze Woche Schaffleisch, mitsamt allen Innereien, hauptsächlich in der Suppe und mit Kartoffeln. Ich habe schon etwas geschluckt, als mir stolz eine ältere Indigena eine Suppe mit den Darmsträngen serviert hat - denn Essen darf man in den Dörfern auf keinen Fall ablehnen.

Mit den Kindern des Dorfes haben wir die Schafe und Lamas gehütet und ich war sehr beeindruckt, wie schnell die Kinder auf dieser Höhe rennen können. Meine Kondition ließ auf der Höhe eher zu wünschen übrig, aber die Kinder sind akklimatisiert und gewohnt, sehr lange Strecken zu laufen.
Tatsächlich ist die nächste Schule zwei Stunden entfernt und die Kinder bewältigen den Schulweg täglich zu Fuß und helfen danach noch mit bei Viehzucht und Landwirtschaft.
Kartoffen und Zwiebeln haben wir auch gemeinsam geerntet und besonders spannend war die Zubereitung der Kartoffeln: Die Kartoffeln werden in der Erde ein wenig eingegraben und danach wird ein Feuer darueber gemacht, wodurch die Kartoffeln "gegrillt" werden.

Der Kontakt zu den Dorfbewohnern war zunächst gar nicht so einfach, da ich die erste "Gringa" (Fremde/Weiße) war, die dort je zu Besuch war. Ich wurde durchaus skeptisch beäugt und die Frauen sprachen ausschließlich Quechua.
Besonders habe ich mich deshalb gefreut, dass sie jeden Tag, den sie mich besser kannten, offener wurden, ich immer mehr eingeladen wurde und mithelfen durfte z.B. beim Kartoffelschälen.
Das Fest am dritten Tag meines Aufenthaltes begann mit einem nächtlichen Ausflug zu einem heiligen Fluss, wo die Regeln verlesen wurden und begonnen wurde den "Tinku" (traditioneller Tanz) zu tanzen. Ein Lama wurde geschlachtet und sehr viel "Chicha" (selbstgebrautes Maisbier) getrunken.
Am nächsten Morgen ist das gesamte Dorf in das nächste Dorf gezogen und dort wurde weitergetanzt und gesungen bis zum Höhepunkt, bei dem die Dorfbewohner gegeneinander kämpfen.
Ich hatte davon im Vorfeld gehört, jedoch die Brutalität dieses Rituals etwas unterschätzt. Tatsächlich wird gegeneinander gekämpft, bis Blut fließt, denn das gilt als Opfer für die "Pachamama" (Mutter Erde/Kosmos).
Ich war dann doch recht froh, als wir zurück auf dem Campo waren und den Männern aus unserer Gemeinschaft nichts Schlimmeres (bis auf eine gebrochene Nase und offene Lippen) passiert ist.
Zum Abschluss hat mir ein Heiler des Dorfes die Zukunft aus den Coca-Blättern gelesen. Aus meinen Erzählungen hört ihr vielleicht heraus, dass diese Tage wirklich etwas Besonderes waren. Es war sowohl eine Grenzerfahrung, als auch ein einmaliges Eintauchen in die Quechua-Kultur, die sehr viel in mir bewegt hat.

Jetzt heißt es für mich noch die letzten Wochen genießen, alle besuchen, die mir im Barrio wichtig geworden sind, und langsam Abschied zu nehmen. Von allen Kindern im Apoyo und der Katechese, der Jugendgruppe und den Frauen in unseren Kursen, die mir immer öfters ihre Babys in den Arm gegeben haben.
Der Abschied wird bestimmt schwer, da ich wirklich nicht weiß, wann und ob man sich wiedersehen wird.
Im Juli werden hier Ferien sein und es gibt keine Angebote in meinem Projekt. Deshalb werde ich andere Schwestern in einem Internat besuchen (zwei Stunden von Cochabamba entfernt) und dort für ein paar Wochen ihre Arbeit kennenlernen und mithelfen.
Vor meinem Heimflug habe ich dann noch ein bisschen Zeit zu reisen, da freue ich mich jetzt schon sehr.

- Anna