MaZ: über Gastfreundschaft und das Gefühl zuhause zu sein

Chillen in Chile: Diese Alliteration ist Anna als erstes in den Sinn gekommen, als sie erfuhr, dass ihr Einsatz als Missionarin auf Zeit in Chile stattfinden wird. „Nun bin ich schon drei Monate im Lande und von Chillen ist weit und breit nichts zu spüren“, schreibt sie in ihrem Rundbrief. 

Anna und Elias während ihrer Reise durch den Süden Chiles

Mein Mitbewohner Elias und ich haben von Anfang an versucht, uns in die chilenische Gesellschaft zu integrieren und nicht in eine deutsche/europäische Bubble zu gelangen. Wir haben den Nachbarn am Anfang beispielsweise selbstgemachte Weihnachtsplätzchen in der Adventszeit vorbeigebracht und wurden daraufhin zu ihnen ins Haus eingeladen. Oft hörten wir, dass Elias und ich die ersten Freiwilligen sind, die nicht nur nett „Hola“ beim Vorbeigehen sagen, sondern das Gespräch mit den Einheimischen im Viertel suchen.

Mein MaZ-Einsatz startet jetzt wieder im März nach der einmonatigen Sommerpause und ich muss gestehen, dass in meinen Gedanken gerade nur eine Sache Platz hat: der vergangene Monat im Süden Chiles! Die Zeit in der Wildnis Patagoniens hat mich – um ehrlich zu sein – mehr gefordert und aus meiner Komfortzone gelockt als die ersten zwei Monate vorher in Santiago. Denn die Hauptstadt Chiles hat mit einem Entwicklungsland schon lange nichts mehr zu tun und auch in Recoleta, dem ärmeren Viertel, in dem ich lebe, kann man mittlerweile das Leitungswasser trinken, Sushi bestellen und Mandelmilch im Supermarkt kaufen. Dagegen war für mich das erste Mal trampen und wildcampen mit Elias ein echtes Abenteuer und ich habe gemerkt, wie vielfältig Chile ist. Nicht nur wegen der atemberaubenden Natur mit Gletschern, Vulkanen und türkisblauen Flüssen, Seen und Wasserfällen, sondern auch die Menschen im Süden sind noch hilfsbereiter als im hektischen Santiago. Ein Beispiel für die Gastfreundschaft der Chilenen hat Elias in seinem Bericht gut beschrieben: 

17:25 Uhr. Flughafen Balmaceda. Letzter Urlaubstag einer tollen Tour durch Chiles Süden – die Frustration ist riesig! Wir stecken fest, am südlichen Ende der Welt. Unsere Fähre heute Morgen, die uns pünktlich zum Flughafen nach Balmaceda, einem kleinen Dorf nahe der argentinischen Grenze, bringen sollte, hatte fünf Stunden Verspätung – der patagonische Wind hat Anna und mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Lange hatten wir noch Hoffnung, den Flug zu bekommen und pünktlich am nächsten Tag zur Arbeit zu erscheinen – dann mussten wir aber mitansehen, wie vor unserer Nase der Flieger abhob, der uns wieder in die Zivilisation befördern sollte. Fünf Minuten vor Abflug am Schalter zu sein, reicht nicht einmal mitten in der patagonischen Wildnis aus. So standen wir nun vor einem Berg an Problemen. Die Flüge für die nächsten Tage ausgebucht, das PCR-Testergebnis nicht mehr gültig – und ziemlich teuer würde es auch werden. Sollte unser doch eigentlich so traumhafter Urlaub wirklich so enden? Nein:-) 

Wie viel chilenische Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft Anna und mir in den nächsten Stunden begegnete, werde ich wohl nie vergessen! Von allen Ereignissen überwältigt, war Anna in solch einen Zustand versetzt worden, dass die Frauen am Schalter der Airline dazu bewegt wurden, uns neben einem Blaubeer-Muffin zwei Tickets nach Santiago für den morgigen Tag in die Hand zu drücken. Zudem wurde uns versichert, ohne aktuellen PCR-Test durch die Kontrollen zu kommen – und bezahlen mussten wir für den Flug auch nichts mehr. Was für ein Glück! Trotz dieser unglaublichen Erfahrung waren wir aber immer noch etwas orientierungslos: Wo sollten wir die Nacht verbringen? 

Balmaceda hat neben Minusgraden in der Nacht, dem gefürchteten patagonischen Wind und verfallenen Häusern wenig zu bieten – von einer Herberge für ratlose Menschen, die ihren Flug verpasst haben, ganz zu schweigen. So blieb uns also nichts anderes übrig, als draußen zu schlafen – das befürchteten wir zumindest. Doch es kam mal wieder anders :-) Ein super liebes Pärchen holte uns von der kalten Straße in ihre warme Panaderia (Bäckerei) und verwöhnte uns mit frischem Brot und Teilchen und einer total leckeren Suppe. Es tat so gut, nach diesem emotionalen Reisetag eine Heimat zu finden, mit den Kindern des Pärchens zu spielen und sogar gezeigt zu bekommen, wie sie backen. Abends verließ die Bäckersfamilie die Panaderia und vertraute uns vorbehaltlos, die Nacht dort allein zu verbringen. Anna und ich konnten es kaum fassen, wie viel Gastfreundschaft wir erlebt hatten.

Mit diesen positiven Erfahrungen und einem neuen Funken Hoffnung, dass das Gute in den Menschen überwiegt, freue ich mich jetzt wieder sehr auf meine Arbeit in der Sala Cuna, der Kinderkrippe. Ich war selbst überrascht, wie sehr mir die Babys diesen Monat gefehlt haben! Das Schönste nach dieser vierwöchigen Reise war es, zu sehen, wie sehr ich mich auf mein Zuhause in Santiago gefreut habe. Damit meine ich unser kleines Häuschen „Casa Alberto“ mit dem Freiwilligenflair und den lieben Nachbarn. Mit den vielen Kontakten hier im Viertel fühle ich mich auch gut angekommen und aufgehoben. 

Die Aufgabe für diesen Monat wird es, meine neu gewonnenen chilenischen Kontakte, wie meine jugendlichen Freunde aus dem Volleyballtraining, den Gemeindemitgliedern aus dem Sonntagsgottesdienst und meinen Seniorennachbarn im Park nebenan, zu pflegen und gleichzeitig, die vielen neuen deutschen Freiwilligen gut aufzunehmen. Elias und ich waren bis Januar nämlich noch die einzigen zwei Freiwilligen im großen Projekt Cristo Vive in Santiago und mittlerweile sind wir zu acht! Doch so viele wie vor der Pandemie (ca. 25 Freiwillige) wird es wohl nie wieder geben, denn wir sind der letzte Jahrgang, der auch mit finanzieller Unterstützung von „weltwärts“ nach Chile reisen kann. Das ist sehr schade, weil es hier so tolle Projekte gibt und auch wenn Chile per Definition kein Entwicklungsland mehr ist, ist die Schere zwischen Arm und Reich leider immer noch sehr groß. 

Manche Eltern der Kinder in der Kinderkrippe sind drogenabhängig oder arbeitslos. Ein Junge in meiner Gruppe namens Noah kann deshalb zum Beispiel keine Mimik und Gestik wie die anderen Kinder in seinem Alter zeigen. Er steht immer da und bewegt sich nicht, mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck. Ihn begleite ich schon seit letztem Jahr und diese Woche hat er das erste Mal gelächelt, als ich mit ihm gespielt habe. Es war so schön zu sehen, weil man merkte, dass noch nichts verloren ist und man einfach mehr Geduld und Zuwendung für den Einzelnen braucht. Andererseits war es schockierend zu sehen, dass die neuen Babys im März von ihren minderjährigen und größtenteils alleinerziehenden Müttern vorbeigebracht wurden. Während meine Gedanken mit 16 Jahren rund um das Abitur und meine Zukunft kreisten, sind manche gleichaltrigen Chileninnen mit einer Schwangerschaft und der Frage nach der nächsten Mahlzeit für ihre Säuglinge beschäftigt. 

Ich habe gelernt, dass mir, und das haben auch die anderen Freiwilligen bestätigt, der Freiwilligendienst im Ausland mehr bringt als den Leuten vor Ort. Sie haben es die letzten zwei Jahre auch ohne Freiwillige geschafft und sind nicht von uns abhängig. Für uns ist dieser Dienst im Ausland mit den vielen neuen Erkenntnissen hingegen lebensverändernd und ich wünsche mir, dass weiterhin Jugendliche aus Deutschland diese unglaublich bereichernde Erfahrung in Chile erleben dürfen.

Morgen beginnt eine spannende Woche, weil ich im Hogar, dem Behindertenzentrum Cristo Vives, und in der Residencia, einem Haus für Obdachlose, mitarbeiten werde. Das wird sicher eine ganz neue und andere Erfahrung, als in meiner Sala Cuna und ich freue mich schon sehr darauf. Darüber erzähle ich im nächsten Bericht dann sicher mehr, bis dann! ¡Hasta luego!                                                        

Anna