Es ist so weit und mein zweiter und gleichzeitig letzter Bericht über meinen MaZ-Aufenthalt in Santiago de Chile steht an. Während ich diese Zeilen Anfang Juni 2022 schreibe, komme ich in eine sentimentale Abschiedsstimmung, obwohl ich noch knapp drei Monate in Chile verbringen darf, bevor der Flieger zurück nach Deutschland geht! Trotzdem sage ich den Chilen*innen, wenn ich gefragt werde, seit Kurzem nicht mehr wie lange ich schon hier bin, sondern wie lange ich noch bleiben werde. Die Vorstellung, so vielen lieben Menschen bald „Ciao“ sagen zu müssen, schmerzt sehr, aber ich versuche es positiv zu sehen, denn das bedeutet auch, dass ich in sechs Monaten zahlreiche Menschen in mein Herz geschlossen habe!
Seit meinem Bericht im März hat sich einiges geändert, aber welcher Wechsel wohl am meisten zu spüren ist, ist der des Wetters. Auf einmal kommen wir nach getaner Arbeit nicht mehr schwitzend in ein aufgeheiztes Haus zurück und müssen nachts die Fenster offenstehen lassen, sondern wir machen uns einen Tee und Wärmflaschen für die Nacht. Wir frieren nicht nur in der WG, sondern auch auf der Arbeit, weil die Häuser hier so schlecht isoliert sind, dass es oft draußen genauso kalt ist wie drinnen. Immerhin die Anden sind nun mit Schnee bedeckt, was die Kälte etwas erträglicher macht. Nächstes Wochenende wollen mein WG-Mitbewohner Elias und ich dort wieder wandern gehen! Nur dieses Mal müssen wir nicht um 5 Uhr morgens los, weil es sonst beim Aufstieg zu heiß wird, sondern man muss sich bei der Übernachtung im Zelt eher Sorgen machen, wie tief der Schnee ist und ob die Ausrüstung für die vorgesehenen minus 15 Grad gut genug ist.
Wegen dem auch für die Chilen*innen ungewohnt kalten Winterbeginn, schicken noch weniger Eltern ihre Kinder in die Kinderkrippe. Davor wurden wir schon im Sommer gewarnt, doch diese Woche mit dem ersten richtigen Regen seit über einem Jahr in Santiago (!) war es auf meiner Arbeit mit den Babys in der Sala Cuna (bzw. laut Definition Kleinkinder, weil sie mittlerweile schon Laufen können) besonders ruhig. Doch es macht mir trotzdem jeden Tag noch mehr Spaß, weil es so schön ist, die Fortschritte der Kinder zu sehen. Zu Beginn des Jahres hatten wir größtenteils „Problemfälle“.
Durch die Folgen der Pandemie hatten einige Kinder Schwierigkeiten sich einzugewöhnen, haben die anderen Kinder gebissen oder den ganzen Tag geweint, bis sie ihre Eltern wiedergesehen haben. Viele essen nur, wenn sie dabei YouTube Videos schauen dürfen, weil sie es von zuhause so gewohnt sind. Die Kleinen kennen durch die strengen Lockdowns in Chile oft keine anderen Menschen außer ihren Eltern und die soziale Interaktion mit Gleichaltrigen fehlte komplett. Umso schöner war es nun besondere Momente mit den Ein- bis Zweijährigen zu teilen, wie zum Beispiel „ihre ersten Worte“ und, dass die Kinder sich nun untereinander auch besser verstehen, wie man auf dem Foto sieht (siehe Slideshow).
Einen behüteten Ort zu haben, ist für sie besonders wichtig, da es bei den Kindern oft familiäre Probleme gibt oder die Kleinen sogar auf der Flucht nach Chile geboren wurden. Die meisten Eltern kommen nämlich aus Kolumbien, Haiti, Bolivien oder Venezuela und haben unter anderem die Atacamawüste durchquert mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in Chile. Ähnlich tragische Schicksale habe ich auch von meinen Kolleginnen gehört, die ganz offen über ihre Krisen reden. Dabei geht es oft um finanzielle Sorgen, Alkohol-/Drogenkonsum, Gewalt, körperliche und psychische Krankheiten. Die Gespräche haben mich darin bestätigt, mein Psychologiestudium im Herbst zu beginnen und in den Bereich der Psychotherapie zu gehen!
Aber in meinem MaZ-Einsatz finden die meisten Begegnungen und Erfahrungen nicht bei der Arbeit statt, sondern in der Freizeit. Was ich besonders liebe an meinem Leben in der Großstadt Santiago sind die vielen unterschiedlichen Menschen, denen ich begegnen darf, und dass ich die Möglichkeit habe in ganz verschiedene Welten einzutauchen. Egal ob bei den Steyler Schwestern in Las Condes, bei den Studierenden im Zentrum, mit denen ich Salsa und Bachata tanzen gehe oder bei meinen Volleyballfreund*innen und lieben Nachbar*innen hier in Recoleta. Es ist für mich sehr wertvoll, diese unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben kennenlernen zu dürfen, aber vor allem ganz viel Liebe von den Mitmenschen zu erfahren, egal aus welcher sozialen Schicht sie kommen. Auffällig ist nur, je ärmer die Leute sind, desto hilfsbereiter, gastfreundlicher und großzügiger sind sie zu mir.
Mit den anderen fünf deutschen Freiwilligen verstehe ich mich ebenfalls sehr gut und unsere tolle Betreuerin Helga organisiert oft Ausflüge zum Beispiel zur Villa Grimaldi – das ehemalige Folterzentrum in Santiago während der Diktatur vor wenigen Jahrzehnten - oder zu einer interessanten Vorlesung in einer Universität zum Thema „indigenes Volk der Mapuche“. Im April hatten wir ein Zwischenseminar in Helgas wunderschönem Haus mit Andenblick und viel Zeit zur Reflexion.
Noch besser finde ich es aber, Themen wie Politik, Geschichte und Kultur hautnah mitzuerleben, als es sich nur in der Theorie anzuhören. Daher bin ich auch sehr froh zum Beispiel bei der „Marcha“ am Weltfrauentag mitgelaufen zu sein, weil es so ein Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl gab, das ich vorher noch nie erlebt habe. Nun verstehe ich auch, warum die Chilen*innen als das Volk gelten, das am besten Demonstrieren kann – diese vielen Frauen zu sehen und ihre Geschichten zu hören, war sehr beeindruckend.
Außerdem war ich beim Präsidentenpalast „La Moneda“ als der neue Präsident Boric seine erste Rede im Amt gehalten hat und die Atmosphäre war so aufgeladen: Es hat gesprudelt vor Hoffnung, Veränderung und Gerechtigkeit! Hautnah haben die ehemaligen Freiwilligen Jonathan, Sophie und ich die Spaltung der Gesellschaft bemerkt, als wir an einem Freitagabend ahnungslos durch das sonst sehr schöne Studierendenviertel „Lastarria“ gelaufen sind und wir plötzlich zwischen Linksextremen und der bewaffneten Polizei standen und versucht haben, den geworfenen Steinen und dem Tränengas zu entkommen.
Letztes Wochenende waren die „dias de los patrimonios“ mit vielen Aktivitäten in ganz Santiago. Dort habe ich unter anderem wunderschöne traditionelle Tanzaufführungen gesehen (Fotos in der Slideshow). Auf den ersten beiden Tanzfotos sind Einwohner*innen der Osterinsel, die offiziell zu Chile gehört. Auf den letzten beiden sieht man die schöne Kleidung einiger Tänzer*innen, die typisch für den Norden des Landes sind.
Schon etwas länger her ist die „Semana Santa“ an Ostern. Doch auch diese war eine ganz besondere Erfahrung mit vielen Kreuzwegen, Gottesdiensten und Heiligenverehrungen, daher wollte ich davon noch Bilder mit einbringen: Ein Highlight war dabei die Osternacht, wo das Osterlicht an jeden weitergegeben wurde, bis die ganze Kirche erleuchtet war!
Die Liste der einmaligen Erfahrungen hier in Chile, die ich noch meinen Enkeln erzählen werde, ist lang und ich bin so dankbar für diesen MaZ- Einsatz und habe das Gefühl, dass es genau das war, was ich gebraucht habe, um zu wachsen. Am richtigen Ort, zur richtigen Zeit und mit den richtigen Menschen.
Anna