MaZ: "Säe ruhig, die Ernte wird kommen. Auch wenn du es nicht mitbekommst."

Ich weiß nicht sicher, ob dies ein berühmtes Zitat ist, aber ich hörte es aus dem Mund einer Steyler Schwester zu Beginn unseres letzten Vorbereitungsseminars. Dieses Zitat hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen, es wurde zu meinem Leitfaden.

Ich weiß, dass ich die Welt nicht retten kann. Auch nicht die Welt meiner kleinen Schützlinge. Wenn ich Schützlinge sage, meine ich die Kinder aus unserem Projekt. Ich arbeite zusammen mit Tabea, meiner Mitfreiwilligen, im Balay Samaritano (= Haus Samariter) in Cebu City auf den Philippinen. Es ist ein Tagestreff für obdachlose Kinder und Ältere. Ein sicherer Ort zum Duschen, Essen, Nickerchenmachen und Lernen. Einige Kinder haben Stipendien, mit denen sie zur Schule gehen können. Einige können hierdurch weitervermittelt werden. In ein paar Monaten wird beispielsweise ein Junge mit seiner Familie zu unserem Nachbarn.

Ins Balay Samaritano kommen viele Kindern. Vor Weihnachten waren es täglich zwischen 50 und 90 Kindern. Das sind schon ganz schön viele. Einige von ihnen sehe ich jeden Tag, einige habe ich erst ein- bis zweimal gesehen. Das Alter ist ganz unterschiedlich. Momentan haben wir Kinder
die zwischen drei Wochen und 19 Jahren alt sind.
Wie können wir überhaupt unserer Hauptaufgabe, dem Unterrichten, nachgehen? Eine gute Frage. Mir ist es selber immer noch ein Rätsel. Tabea und ich haben aber ein gutes Mittelding gefunden. Ich würde es als "offenen Unterricht" bezeichnen. Wir schreiben Aufgaben an die Tafel, meistens leichte Matheaufgaben und eine kleine Aufgabe, die sich mit der englischen Sprache befasst. Wörter mit Zeichnungen verbinden oder "Was ist falsch?" – eine Wortreihe, wo ein Wort nicht reinpasst – oder Ähnliches.

An manchen Tagen können wir kein Kind motivieren auch nur eine einzige Matheaufgabe zu rechnen. An anderen Tagen machen fast alle mit. Eigentlich wollten wir die kleinen Kinder auch malen lassen. Diese Woche mussten wir ihnen aber die Buntstifte wegnehmen, weil sie damit nur
Unfug gemacht haben. Stifte werden zu Schminkstiften, Tattoonadeln oder Wurfgeschossen umfunktioniert. So sind Kinder halt manchmal, auch hier in Cebu.
Mittlerweile haben wir aber das Vertrauen der meisten Kinder gewonnen. Dieses Vertrauen hilft uns enorm. Wir begegnen uns mit gegenseitigem Respekt und helfen einander.
Die Kinder kümmern sich um uns. In vielerlei Hinsicht.
An einem Tag haben wir zwei Kinder auf dem Weg zum Markt getroffen und mit ihnen noch schnell das ganz berühmte Klatschspiel "Sisisi-Jojojo" gespielt. Ein Mann, der die beiden begleitet hat, hat sich sofort für uns beziehungsweise für unsere Hautfarbe interessiert. Weiße Hautfarbe verbinden viele Menschen hier mit Geld. Ausnahmsweise wurde aber nicht Amerika als unsere Herkunft angenommen, sondern wir wurden tatsächlich gefragt. Als wir uns als Deutsche vorstellten, wurden die Kinder von dem Mann aufgefordert, uns nach Geld zu fragen. Doch stattdessen haben sie uns unter einem Vorwand sofort wieder auf die Straße geschoben und weggeschickt. Sie haben uns sozusagen beschützt. Ich denke, diese Geschichte spricht für sich. Tabea und ich waren sehr gerührt.
Wie kümmernd und liebevoll unsere Kinder sind, lässt sich an einer weiteren Situation zeigen. Schwester Donota kümmert sich täglich um die Klamotten der Kinder. Sie wechselt, wäscht, näht. Außerdem kümmert sie sich um die Gesundheit der Kinder. Sie verteilt Vitamine, kümmert sich um Fieber und Wunden. Eine Umarmung zwischendurch gehört natürlich auch von ihrer Seite aus dazu. Sie versucht sich manchmal zwischendurch 10 Minuten Zeit für sich zu nehmen. Dazu schließt sie ihren Raum von innen ab. Sowas kennt man hier normalerweise nicht. Hier ist immer etwas los, man ist nie alleine.
Wie soll das auch gehen bei fünf bis zehn Geschwistern? So wird von den Kindern häufig ein Grund gesucht, um mal kurz mit der Schwester zu sprechen. Unter einem Vorwand, ist z.B. eine Wunde auch noch so klein, wird die Schwester gesucht, denn diese Wunde muss ja sofort verarztet werden.
In unseren Augen kann das als nervig gesehen werden, aber wir kommen auch aus einer individualistischen Gesellschaft. Wir habe zwar meistens jemanden hinter uns stehen, aber können auch alleine zurechtkommen.
Die Philippinen hingegen sind kollektivistisch geprägt. Die Gruppe, der man angehört, ist das Wichtigste. Man kümmert sich umeinander und kann aufeinander vertrauen.
Wenn jemand alleine ist, ist die Person vielleicht traurig, einsam oder hat ein anderes Problem. So kommt dann meistens jemand und fragt, ob alles in Ordnung ist. Diese Person möchte für einen da sein und einen unterstützen.
Und das tun auch die Kinder, wenn sie einen Grund suchen Schwester Donota nicht alleine zu lassen. Es zeigt nur, was für ein riesiges Herz sie doch haben.

Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, allen Kindern die Haare zu kämmen und irgendwann habe ich angefangen die Haare der Mädels zu flechten. Es blieb aber nicht bei den Mädels. Mittlerweile kommen auch fast alle Jungs zu mir. Egal wie lang die Haare sind, ich muss es zumindest versuchen. Geflochtene Haare werden bevorzugt. Wenn der Haarschnitt oder die Haarlänge das aber nicht gewährleistet, müssen wenigstens ein bis drei kleine Zöpfe reingebunden werden. Ich habe schon an einigen Tagen nichts anderes machen können, außer mich um die Haare der Kinder zu kümmern. Aber das macht mir absolut nichts aus.
Ich glaube die Kinder brauchen zwischendurch diese 1:1-Zuwendung. Auch kuscheln ist ganz beliebt. Mädchen kommen zu uns auch, bis sie größer sind. Die älteren Jungs hingegen nicht mehr oder sie umarmen uns auch nicht einfach. In dem Moment, wo ich ihnen die Haare flechte, bekommen sie dann aber ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuwendung. Etwas, was sie sonst vielleicht nicht so häufig bekommen.

Aber denkt bitte nicht, dass das Leben auf der Straße nur schrecklich für sie ist. Im Gegenteil. Es hat auch seine schönen Seiten. Die Kinder lieben ihre Freiheit. Ein Mädchen, welche mittlerweile im Haus gegenüber von uns wohnt, hat mit leicht trauriger Nostalgie von ihrer Zeit auf der Straße am Pier erzählt. In diesen fünf Jahren hatte sie so viel Spaß, so viele Freunde und so viel Freiheit. Trotzdem ist sie sehr froh, bald ihren Schulabschluss zu machen und dann ihren sichtbaren Teil zur Familie beizutragen. Jetzt kann sie noch kein Geld verdienen, dafür konzentriert sie sich voll und ganz auf die Schule und hilft mit ihren Geschwistern, Nichten und Neffen, wo sie kann. Ich bewundere ihre Entschlossenheit und ihre Wertschätzung für das, was sie hat, was ihre Familie für sie erarbeitet hat.

Vor den Weihnachtsferien fiel es mir total schwer mich von den Kindern zu verabschieden und ich weiß gar nicht, wie ich den Abschiedsschmerz in sechs Monaten ertragen soll.
Aber an Weihnachten und Silvester hatte ich absolut keine Zeit, um traurig zu sein. Wir verbrachten diese Tage im San Pio Village. Das Zuhause von uns und weiteren 300 Familien. Es ist ein Village (Siedlung), welches Familien, die sonst an Mülldeponien oder auf der Straße wohnen würden, einen sicheren Ort zum Leben gibt. Die Kinder dürfen im ganzen Village spielen. Es gibt eine Kirche, einen Volleyballplatz, einen Sportkomplex mit Basketballplatz und Bühne, einen kleinen Laden und eine Wasserstation. Viele verkaufen selbst zubereitetes Essen. Somit kann man hier Arbeit, Freunde und ein Zuhause finden.

An Heiligabend wollten wir ein wenig deutsche Tradition aufleben lassen und haben mit den anderen beiden Freiwilligen bei uns im Village Raclette gemacht. Es funktioniert übrigens auch im Toaster-Ofen . Als wir dann anschließend durch die Häuserreihen gelaufen sind, um all unseren Freunden, Kolleginnen und Bekannten "Frohe Weihnachten" zu wünschen, wurden wir überall zum Essen eingeladen. Hier habe ich gelernt, dass es unhöflich ist eine Einladung oder gar Essen abzulehnen. Man muss zumindest probieren. Ja, an den beiden Abenden sind wir in der Nacht eher in unser Bett gerollt als gelaufen. Dazwischen gab es viele Karaoke, Disco und immer wieder ein "Clap, clap for Jesus" (="Klatschen für Jesus").
Morgens am 25. Dezember wurde die richtige Weihnachtsmesse gefeiert. Lasst mich eins sagen: "Happy Birthday" wird ab jetzt in meinem Kopf ewig mit Jesus und seinem Geburtstag verbunden sein. Das war nämlich ein ganz normales Kirchenlied. Es hat nur noch gefehlt, dass nach philippinischer Tradition ein rohes Ei auf dem Kopf des Geburtstagskindes geschlagen wird. Aber darauf wurde dann glücklicherweise doch verzichtet.

Ich bin ganz gespannt darauf, was mich noch alles erwartet, und bin davon überzeugt, dass es sechs weitere spannende, erfahrungsreiche, teils auch schockierende, aber hauptsächlich mit Liebe gefüllte Monate werden.
Amping mo (="Passt auf euch auf")

Maria -