Wir und Sie

Wie begegnen wir Flüchtlingen? Ablehnend, gleichgültig, auf Augenhöhe? Was macht unser Verhalten mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen haben? Hier sind ein paar Antworten. Dieser Text erschien im in:spirit-Magazin zum Thema Grenzen.  
 

„Es gibt hier Leute, die, wenn sie dich als Schwarzen sehen... wenn sie dich als Moro (eine abwertende Bezeichnung für Marokkaner) sehen, sagen sie, du bist ein Räuber oder ein Dschihadist... und dann gibt es einen Punkt, an dem man anfängt, sein Gehirn mit negativen Gedanken zu füttern... man fängt an, Dinge zu sehen... man geht herum und versucht, diese Gedanken zu vergessen … und erreicht einen Punkt, an dem man anfängt zu denken... das reicht, ich werde mich von diesem Haus oder unter dieses Auto werfen... man beginnt einfach zu sterben."
(Ghali)

 

Diese Worte eines 21-Jährigen aus Marokko drücken die Verzweiflung von Millionen von Flüchtlingen und Migranten aus, die in Europa angekommen sind, weil sie dachten, sie hätten das Land ihrer Träume erreicht. "Du fängst einfach an zu sterben...", und das in einem Land, das für seinen Wohlstand, die Achtung der Menschenrechte und die Wahrung der Freiheit bekannt ist. 
Ghali war Teilnehmer einer qualitativen Studie über die Auswirkungen rassistischer Anfeindungen auf das Wohlbefinden von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Einwanderern (im Folgenden Migranten), die in Madrid leben.

Wut, Verzweiflung, Trauer und Verlust, Traurigkeit, Machtlosigkeit, Isolation und starker emotionaler Schmerz gehörten zu den am häufigsten genannten Emotionen der Migranten, die an der Studie teilnahmen. Die Konfrontation mit den Grenzen der Gleichgültigkeit, Feindseligkeit und des Misstrauens in den Aufnahmeländern untergräbt oft das Vertrauen der Migranten in eine bessere Zukunft und führt dazu, dass sie an ihrem eigenen Wert als Person zweifeln und den wahren Sinn ihres Lebens infrage stellen.

Einige junge Flüchtlinge in der Studie sprachen davon, an einer Bushaltestelle oder in einem Park zu stehen und eine feindselige Behandlung durch Einheimische zu erfahren, nur wegen ihrer Herkunft, Kultur oder Hautfarbe.
 

„Ich habe schon viele Situationen zwischen einem Weißen und einem Afrikaner gesehen, wissen Sie. Wenn die Polizei kommt oder so was, wird der Afrikaner mitgenommen. Nur der Afrikaner..." (Abdel, 19, Guinea Conakry). 

Die Angst, die Migrant*innen durchleben, ist lähmend, da sie sich meist nicht wehren können oder keinen Zugang zu Dienstleistungen in den Aufnahmeländern haben, die die Menschenrechte beachten sollen. Diejenigen, die keine Dokumente haben, sind besonders verletzlich und anfällig dafür, von den Bürger*innen des Landes ausgenutzt und gedemütigt zu werden, da sie in ständiger Angst leben, von der Polizei erwischt und in Abschiebehaftanstalten untergebracht zu werden.

In Verbindung mit rassistischen Anfeindungen an öffentlichen Orten stoßen Migrant*innen oft auf starke Grenzen, wenn sie versuchen, Zugang zu Arbeit, Wohnraum, Banken und anderen grundlegenden Dienstleistungen zu erhalten, was dazu führt, dass sie ein starkes Gefühl der Ohnmacht erleben:

„Es ist sehr, sehr schmerzhaft ... Manchmal möchte man weinen ... sehr laut schreien, damit der Schmerz aus deinem Herzen verschwindet ... "
(Namir, 32, Guinea Conakry).

Gefühle der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit können noch stärker sein, wenn man in öffentlichen Ämtern, die geschaffen wurden, um die Schwächsten zu unterstützen, auf Diskriminierung stößt. Zum Beispiel in Sozialämtern, über die viele der Befragten berichten, dass sie dort buchstäblich „in ihr Land zurückgeschickt" wurden. Sie sprachen davon, dass sie sogar von Sozialarbeiter*innen feindselig behandelt wurden, die oft keinen Respekt für den Schmerz zeigten, den sie in ihrem Heimatland durchgemacht hatten, und auch nicht für ihre Verzweiflung im Gastland. 

„Viele dieser Menschen haben niemanden, der sie unterstützt und ihnen und ihren Problemen zuhört, und das wird ihr Wohlbefinden stark beeinträchtigen." Diese Worte einer Psychologin, die junge Migrant*innen begleitet, zeigen die Verzweiflung und Isolation, die diese Menschen oft durchmachen, wenn sie versuchen, die unsichtbaren Grenzen zwischen „ihnen und uns" zu überwinden.

Darüber hinaus war das auffälligste Ergebnis einer zweiten Studie die Tatsache, dass angesichts rassistischer Anfeindungen und Diskriminierungen alle Migrantengruppen stark betroffen waren; allerdings waren es die Jüngsten (zwischen 18 und 29 Jahren), die mehr Verzweiflung und starke Gefühle der Wut zeigten.
 

Auf die Frage, wie sie das Verhalten in diesem Bild (rechts) empfinden, da sie rassistische Anfeindungen erlebt oder miterlebt haben, äußerten die Jüngsten von allen Befragten den höchsten Grad an Isolation. Insgesamt verdeutlichen diese Aussagen, wie verletzlich Migrant*innen in westlichen Ländern sind, da sie aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer religiösen Identität oder ihrer Sprache mit unsichtbaren Grenzen konfrontiert werden. Hinzu kommen weitere unzählige Barrieren, die sie erleben, wie z. B. die ständige Angst vor Abschiebung, die Trennung von Familienmitgliedern, die Ungewissheit über die Zukunft, der fehlende Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, weil sie nicht die richtigen Dokumente haben.

Da wir Zeug*innen dieser Realität sind, müssen wir uns dringend fragen: Wie kann ich dazu beitragen, Grenzen innerhalb der europäischen Gesellschaft zu überwinden? Wie kann ich kleine Wege finden, um diejenigen, die kulturell oder religiös anders sind, willkommen zu heißen und zu helfen, ein Zuhause für alle zu schaffen? 

Habe ich jemals daran gedacht, dass ich absolut nichts dafür getan habe, in der nördlichen Hemisphäre geboren zu sein? Wo wäre ich heute, und wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich in der südlichen Hemisphäre geboren worden wäre? Vielleicht können Fragen wie diese helfen, Grenzen in unseren Herzen zu brechen und von dort aus aktivere Akteur*innen beim Aufbrechen der Grenzen zwischen „ihnen und uns" zu werden, denn „sie" sind unschuldig, dass sie an einem anderen Ort geboren wurden.
 

Sr. Maria José Rebelo SSpS (aus dem Englischen übersetzt von Sr. Christel Daun SSpS)

 

 

Autorin und Magazin


Die studierte klinische Psychologin Maria José Rebelo ist Steyler Missionsschwester und seit acht Jahren in der psychologischen Betreuung von Migranten und Flüchtlingen im JRS (Jesuiten Flüchtlingsdienst) in Portugal tätig. Außerdem hat die 54-Jährige einen Doktor in psychischer Gesundheit und Migration und gehört zum SSpS-Team, das die Mission der Steyler Missionsschwestern in Athen begleitet. 
 

 

An welche Grenzen stoße ich persönlich? Welche kann ich ändern, welche nicht? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich die vierte Ausgabe des in:spirit-Magazins zum Thema „Grenzen“. Der Text "Wir und Sie" stammt aus diesem Magazin.